gesichtet #105: Morgensterne, Obst und ewiges Leben

Von Michel Schultheiss

Zigaretten, Zitronenlimonade und ein kleiner Taschenradio stehen bereit. Im Tramhäuschen der Endstation «Kleinhüningen» der Tramlinie 8 hat er es sich gemütlich mit Musik und Verpflegung eingerichtet. Doch es ist nur einer seiner zwei Stammplätze. Bisweilen zieht es ihn mit dem Einkaufstrolley auch zum Barfüsserplatz. Bei seinem Gang durch die Stadt hat er stets seinen Notizblock und einen Kugelschreiber zur Hand.

Narcis_Kleinhüningen

Einer seiner Lieblingsplätze ist die Tramstation Kleinhüningen: Narcis, ehemaliger Elektriker, Stadtspaziergänger und Fan von Leonardo da Vinci (Foto: smi).

Narcis ist mittlerweile schon fast ein Bekannter von mir, der mich stets grüsst, wenn ich ihn in Kleinhüningen oder am Barfi begegne. Wohl einem manchen er als «der Mann mit dem Obst» bekannt: Stets streift er durch Basels belebte Gegenden, im Sommer etwa Bars unter freiem Himmel, und streckt den Leuten jeweils einen Apfel und eine Orange hin, was in dieser Rubrik schon einmal erklärt wurde und auch auf der Seite «When you live in Basel» einen Eintrag erhalten hat. Nicht alle Früchte sind jedoch für diese Aktion willkommen: «Bananen sind schmutzig», meint er schmunzelnd.

Narcis_Zeichnung

Verspielt und sympathisch wie «Die Reise zum Mond» von Georges Méliès: Eine Morgenstern-Zeichnung in seinem Notizblock (Foto: smi).

Was viele aber nicht wissen: Das Obst ist zwar ein durchaus origineller Eisbrecher, um nach «e bitzeli Münz» für einen Kaffee zu fragen gedacht, doch nicht nur. Narcis möchte auch gerne mit Leuten ins Gespräch kommen. Eigentlich interessiert er sich für ganz andere Themen als Obst. So ist etwa seine Verbundenheit mit dem italienischen Universalgelehrten ungebrochen: «Leonardo da Vinci wurde 1452 geboren, ich genau 500 Jahre später», erklärt Narcis.

Im Notizblock, den er nach wie vor mit sich führt, hält er – ganz im Sinne von da Vinci – diese Überlegungen fest. Verspielte Zeichnungen sowie und kryptische Schriftmuster sind darauf. Auf einem Blatt ist ein Punktesystem zu sehen. «Gegen die Schmerzen», wie er sagt. Es erinnert an eine Akupunktur. Eine Skizze stellt einen Regenbogen dar, den er kürzlich gesehen und aufgezeichnet hat. Dabei pflegt er eine eigene Kosmovision. «Der Blitz ist eine Frau, Donner der Mann, Regenbogen die Kinder», erklärt Narcis.

Narcis am Barfi

Am Nachmittag ist er vom Barfi nicht mehr wegzudenken (Foto: smi).

Auf einem anderen Blatt ist eine Zeichnung zu sehen, die besonders hervorzuheben ist: Ein personifizierter lächelnder Morgenstern ist darauf zu sehen – so herzig wie der lachende Erdtrabant in «Die Reise zum Mond» von Georges Méliès. Die Aufschrift «Tito» und «ewiges Leben» darf ebenfalls nicht fehlen. Letzteres ist etwas, das ihn besonders bewegt. Kürzlich erstellte er mir ein Abo für das ewige Leben. Er fragte mich dabei schmunzelnd, wie viel wohl jemand dafür bezahlen würde. Mir jedenfalls schenkt er so einen Gutschein. Hundert Franken ist er wert, sowohl die christliche wie auch die muslimische Zeitrechnung ist darauf zu sehen, die Summe davon gibt die Anzahl Jahre des ewigen Lebens wieder.

Ewiges Leben

Ein Gutschein für das ewige Leben kostet hundert Franken (Foto: smi).

Seine Sprache ist geheimnisvoll: Er spricht in Rätseln – doch stets mit einem Augenzwinkern. Er scheint ein Zeichensystem mit eigenen Bedeutungsträgern kreiert zu haben. Was schon mal vom Schreibenden über den nicht ganz unproblematischen Begriff des «Stadtoriginals» festgehalten wurde, scheint sich zu bestätigen: Obschon alles nach Individualismus strebt, wird er eher beargwöhnt, wenn er sich völlig ausserhalb des entweder kommerziell oder lokalpatriotisch verwertbaren Schemas bewegt. Während alle aufs Tram warten, geht der Mann somit oft in der Menschenmenge unter. Die wenigen, die ihn bemerken sind meistens irritiert über das überraschende Obstangebot. Dabei hätte er womöglich viel zu erzählen, auch wenn vieles davon schwer verständlich ist. Ob sich jemand die Mühe machen wird, seine Anspielungen zu entschlüsseln, ist fraglich. Auf jeden Fall ist Narcis trotzdem grosszügig mit den Leuten. Er wünscht ihnen schliesslich «ewiges Leben».


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