Das Wunder – Prosa von Romana Ganzoni

Nichts ist so beständig wie das Staunen über die Wolken. Beim Blick nach oben zeigt sich das Innerste, und nicht wenige Schlagzeilen in den Medien bauen eins zu eins auf dem Wolkenschauen auf. – Eine Satire von Romana Ganzoni.

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«Für die Journalisten wurden Zelte aufgestellt. Die Kinder hüpften zurück, sie wussten, von Journalisten bekommst du immer schwarze Schokolade und trockenes Gebäck, das voller E-Stoffe steckt und jeden atomaren Angriff überlebt, es schmeckt hervorragend – auch weil es aus der Hand von Journalisten stammt.»

von Romana Ganzoni

Mitte November, es war ein Donnerstag, hingen zwei Wolken deutlich tiefer als das umliegende Grau darüber und dahinter. Die Wolken näherten sich einander zaghaft. «Obwohl oder weil das Treffen unausweichlich ist», sagte der Spaziergänger mit Hund, der schon früher aufgefallen war. Die Wolken hatten sich, Stunden, bevor es hell war, aufeinander zubewegt, die ätherische Liebesgeschichte zweier Rundungen, zwei Superbusen oder Bälle für Riesen, vielleicht Dracheneier, die sich deutlich abhoben von den anderen Formationen. Der Spaziergänger mit Hund sagte, man sehe den Kampf um Bedeutung und den Willen zur Gemeinschaft auch in der Natur, aber die Menschen hätten verlernt, zu sehen, was sei. Der Spaziergänger mit Zeitung fragte: «Wann haben die Menschen das verlernt?» Der Spaziergänger mit Hund sagte: «Schon lange.»

In der Mitte des Morgens fanden sich die Wolken schliesslich in der Mitte der Ebene. Nun hingen sie («Es ist nicht zu übersehen!», sagte der Spaziergänger mit Zeitung) als Backen eines himmlischen Hintern in die Welt, den ganzen verbleibenden Vormittag unverändert prächtig. Trotzdem waren noch Grundsatzfragen möglich. «Ist das wirklich ein Arsch?» fragte die Spaziergängerin mit Bedenken. Während des Mittagessens antwortete die Natur im Sinne des Kampfes um Bedeutung: Die Backen verdichteten sich zu einem kleineren kompakten Gesäss vom Durchmesser eines Kilometers.

«Das Gesäss wünscht weiss wie Schlagrahm und frisch wie ein Spritzer Zitronensaft einen guten Appetit und lächelt uns zu», sagte die Spaziergängerin mit Appetit. «Blanke Hintern verbreiten immer Freundlichkeit und Freude», sagte der Spaziergänger mit Zeitung, «beim Anblick eines Hinterteils habe ich das Gefühl, es gehe gleich die Sonne auf.»

Ab 13 Uhr warteten alle auf die Sonne, aber die ging nicht auf, stattdessen wurde es heller im Schlitz, er entliess Licht. Um Vier kam plötzlich Bewegung in die kompakten Backen, die einige als wohlgeformt bezeichneten und eine Kunstinstallation von Kim Kardashian und Familie GmbH vermuteten, andere dachten an eine PR-Aktion von Artemide, einer Firma für Design-Leuchten nahe Mailand, der Spaziergänger mit Hund, der schon früher aufgefallen war, sagte, das sei nicht irgendeine menschliche Laune oder Absicht, sondern eine Aussage der Natur, viel mehr als ein Zufall, nichts anderes. Chinesische Wetterexperimente, die sich während einer Hochzeit verselbständigt hätten, schloss er kategorisch aus, und die ETH würde nichts dergleichen tun, viel zu teuer und total unschweizerisch. Die Bewegung in den Backen zeigte Rillen und Windungen, wie die eines denkenden Gehirns. «Da denkt jemand mit dem Arsch», sagte ein Kind. «Der Arsch sagt uns, ihr seid die grössten Nüsse auf Erden», sagte das andere Kind. Sie hüpften davon.

Für die Journalisten wurden Zelte aufgestellt. Die Kinder hüpften zurück, sie wussten, von Journalisten bekommst du immer schwarze Schokolade und trockenes Gebäck, das voller E-Stoffe steckt und jeden atomaren Angriff überlebt, es schmeckt hervorragend – auch weil es aus der Hand von Journalisten stammt. «Das sind die, die Frauen und Kinder im Ernstfall beschützen,« hatte der Lehrer gesagt.

Die Menschen standen unter der Kreation über ihnen, die sie anzog, sie amüsierten und ärgerten sich, sie staunten, lachten, einer (er war unscheinbar, keine besonderen Merkmale) sagte: «Ich fühle mich betroffen.» Die Gruppe der Betroffenen wuchs. Die Religiösen sagten, der Mensch sei ein Abbild Gottes. «Das kann unmöglich sein Arsch sein, wer das sagt, betreibt Blasphemie.» Denn die Spassvögel hatten auf Facebook und per Email bereits überallhin Memes verschickt über den Himmlischen (oder einen von ihm abhängigen Hilfsteufel), der ihnen abwechselnd sein Hinterteil und seine entblösste Hirnmasse hinhalte.

Schockierend, dass beides gleich gross war. Ganz fürchterliche Proportionen, wenn man sich Gott in menschlicher Gestalt vorstellte, das fanden auch die Atheisten, die sich zu Hunderten eingefunden hatten, um die zu verspotten, die Gott auf der Zunge führten und ihn verteidigen wollten. Da hörte der Spass auf. Die Atheisten setzten zu naturwissenschaftlichen Vorträgen an und drohten, unter dem behaupteten himmlischen Arschgehirn einen Kongress zur Aufklärung der Verblendeten und der Unentschlossenen zu organisieren, der Korb mit den Einzahlungsscheinen stand schon bereit, die Baracken für die Vorlesungen waren in Bau. Das Wort Arschgehirn, das nun auf Twitter mit Hashtag kursierte, zog Fotografen und Tatoomeister aus aller Welt an, die Tatoomeister boten in ihren Studios, die in Wellblechhütten untergebracht waren, ironische Varianten des Arschgeweihs für Zaungäste an, gratis, Tätowierte konnten nach vollendetem Werk einen Betrag in den Hut legen für die Armen dieser Welt.

Der Spaziergänger mit viel Zeit sagte: «Ist mir scheissegal, was da passiert.» Das sei eine inakzeptable Haltung, sagte der Atheist mit Schirm. Es sei an der Zeit, mit den Mythen aufzuräumen. «Ist mir scheissegal», sagte der Spaziergänger mit viel Zeit. Der Atheist mit Schirm empörte sich, er war betroffen. Ein Religiöser mit Mitgefühl war auch betroffen und tröstete den Atheisten mit Schirm, sie setzten sich und murrten über die beiden Kinder, die nur wegen der Kekse hier waren. Heute drehe sich alles um Konsum, um das Haben, um nichts anderes gehe es auf diesem Planeten. «Die Inhalte, das war einmal», sagte der Atheist mit Schirm. Der Religiöse schaute betroffen zum Arsch hinauf. Sie schauten zu den Kindern. Die winkten ihnen zu und liefen zu den Journalisten. Die Schokolade war ausgegangen.

Ende November, es war ein Dienstag, war die Wolke weg. Der Schlitz erlosch zuletzt.

Romana Ganzoni, geboren vor dem Zvieri. Es war ein Dienstag. Es war April und Scuol. 1967. Der Kopf zwetschgenblau. Später Matura in Ftan et cetera. Sie nahm 2014 am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil. Arbeit am Roman. Erzählungen, Kolumnen, Gedichte. Romana Ganzoni schreibt regelmässig für «Zeitnah: Kulturmagazin seit 2012».

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