Leben auf der Erde und unter der Erde – Michelangelo Frammartinos «Il buco»
Michelangelos Frammartinos Film ist nicht zuletzt eine Hommage an das Kino selbst. Ein Blick zurück in eine Zeit des Aufbruchs. Höhlenforscher aus dem Norden wagen sich 1961 in den Süden Italiens und treffen auf eine archaische Welt …
1961. Höhlenforscher aus dem boomenden Norden Italiens wagen sich in den Süden, wo sie als erste den Abisso di Bifurto vermessen wollen. Der Abisso di Bifurto ist eine 683 Meter tiefe Grotte im heutigen Nationalpark Pollino (seit 1993) in Kalabrien. Gleichzeitig erleben wir die letzten Tage im Leben des Schäfers Zi‘ Nicola …
Das Kino selbst ist ja nichts anderes als eine Höhle – dunkel ist es darin, und wir erleben immer wieder Neues. Insofern ist die Kinogängerin auch eine Höhlenforscherin – Michelangelo Frammartinos originelles Werk ist zwar sicherlich im Arthaus-Bereich zu verorten, und doch ist er mit seinem aktuellen Film auch nahe bei den Wurzeln des frühen Kinos, das noch näher beim Jahrmarkt war als beim heutigen Independent- und Kunstkino.
Frammartinos Welt ist die reale Welt, die Höhle ist für die Menschen aber weit weg vom eigenen Alltag; vielleicht deshalb fokussiert Frammartino so stark auf das Leben innerhalb und ausserhalb der Höhle.
Wie das Kino mit dem Leben draussen koexistiert, so ist auch die Welt der Höhle nicht von der Welt an der Oberfläche zu trennen – so wie die letzten Tage des autochthonen Schäfers auf der Erdoberfläche nicht zu trennen sind von den Tagen der Forscherinnen unter der Erde. Der Film gewinnt so eine Tiefe, gerade dadurch, dass er Oberfläche und Tiefe miteinander verbindet und konterkariert.
In Venedig wurde der Film mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet, ausserdem mit dem Ciak d’Oro (bester Originalton; beste Kamera). Völlig zu recht natürlich – dieser Film ist ein Kunstwerk, fast ohne Dialog, das ist pures Kino, das aber nie langweilt und auch nicht mit Überlänge glänzt. Ein Film wie aus einem Guss, perfekt komponiert, wie von der Natur selbst … gemacht für alle, die der x-te Marvel- oder Star-Wars-Film nur noch langweilt. Ein Antidot gegen unsere schnelllebige Zeit. Eine mystische Erfahrung – mit offenen Augen und Ohren zu geniessen.
«Il buco». Italien/Frankreich/Deutschland 2021. Regie: Michelangelo Frammartino . Mit Claudia Candusso, Paolo Cossi, Mila Costi, Carlos José Crespo, Nicola Lanza, Jacopo Elia, Angelo Spadaro u. a. Deutschschweizer Kinostart am 21. Juli 2022.
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