Blick zurück, Blick nach vorn – Pierre-Yves Borgeauds «Nos utopies communautaires»
Rückblick auf die 68er und ihr Engagement – und Ausblick auf aktuelle Projekte und auch einige Querverweise auf die Jungen bzw. Jüngeren und ihren Blick auf die Welt bietet dieser interessante CH-Dokumentarfilm, in dem die Deutschschweiz und die Suisse romande beide wichtige Rollen spielen.
Viel ist von den Boomern die Rede, von den 68ern. Was ist von ihren Utopien geblieben? Pierre-Yves Borgeauds Film zeigt, wie sich die Menschen von damals heute engagieren und wie sie ihr früheres Engagement heute teilweise auch kritisch hinterfragen. Anhand von verschiedenen genossenschaftlichen Wohnprojekten (u. a. Ecovillage La Smala, Kraftwerk) in der Deutschschweiz und der Romandie, von Interviews mit den Menschen und anderen dokumentarischen Aufnahmen aus dem Leben der Alt-68er zeichnet Borgeaud («Viramundo», «Retour a Gorée») ein reichhaltiges Bild dieser Menschen, die auch unsere Gegenwart stark geprägt haben und immer noch prägen.
Viele der damaligen Utopien sind nämlich auch heute noch mehr als präsent: «system change – not climate change», das ist ja – wie damals – ein Aufruf zur revolutionären Veränderung. Doch genau wie damals sind auch die Feinde der revolutionären Bestrebungen sehr stark. Während damals «bürgerlich» oder «spiessig» eher Schimpfworte waren, gehört heute Revolution eher nicht zum Vokabular des Durchschnittsjugendlichen. Vielleicht haben sich die gesellschaftlichen Gräben – gerade auch während der Pandemie – noch verhärtet …
Sicher sind aber viele der Veränderungen, die ohne die Inputs und das Engagement der 68er nicht vonstatten gegangen wären, nicht umkehrbar; viele Forderungen von damals sind – vielleicht teilweise redimensioniert und sonst wie verändert – heute Teil der Gesellschaft als Ganzes. Aber natürlich zeigt sich auch, dass der Kapitalismus alles in sich aufnimmt – aber vielleicht kommt auch dieses Inkorporieren der Gesellschaft als Ganzes zugute.
Borgeauds Film regt auf jeden Fall zum Denken an – jetzt, wo der Krieg in der Ukraine tobt, vielleicht noch mehr. Denn die Frage nach Wohnraum, nach Ressourcen ist jetzt wahrscheinlich noch dringender als noch vor ein paar Jahren.
Im Film sind viele bekannte Lieder der linken und der Hippie-Bewegung zu hören, u. a. «Die Internationale», «Aquarius», «Imagine» und «Bella ciao». Welche Lieder werden die Jungen von heute in 40 Jahren singen? Werden sie neue Formen des Zusammenlebens, jenseits von Zweierkiste, kennen? Gut möglich, dass gewisse Entwürfe der 68er wie die freie Liebe (im Film wird der Fall Otto Muehl verhandelt – der Guru landete im Gefängnis, da er die freie Liebe auch mit Minderjährigen lebte), gar keine grossen Spuren hinterlassen haben. Andererseits wird die Vielfalt an Lebensentwürfen vielleicht auch wieder zunehmen bzw. so bleiben wie sie heute ist: Die Vielfalt ist heute ja sicher nach wie vor sehr gross; gerade dies wohl auch eine Hinterlassenschaft der 68er.
«Nos utopies communautaires». Schweiz 2022. Regie: Pierre-Yves Borgeaud. Dokumentarfilm. Deutschschweizer Kinostart am 8. September 2022.
- Wenn der Boss Wall Street heisst – Stéphane Brizés «Un autre monde»
- Bahnhofswelten – «Mahatah – Side Stories from Main Stations»