«Le film de mon père» und «Un petit frère»

Dokumentarfilmer Jules Guarneri erzählt die Geschichte einer aussergewöhnlichen Familie. Filmemacherin Léonor Serraille fokussiert auf eine nach Frankreich migrierte Familie aus Côte d’Ivoire.

Jules Guarneris Familie ist nicht gerade eine Durchschnittsfamilie: Sein Vater musste nie arbeiten, da seine verstorbene Frau steinreich war. Seine Mutter hat er früh verloren; seine Geschwister stammen aus Kolumbien. Die Schwester Iwa ist bereits selber Mutter; der Bruder redet mit den Geistern und arbeitet bei der Gemeinde.

Inspiriert von den Filmaufnahmen seines Vaters erzählt Jules Guarneri aus seinem Leben und dem seiner Familie – einer Familie auf der Suche nach einer eigenen Identität, nach neuen Aufgaben und Perspektiven.

Ein ruhiger Moment im Leben des Vaters. (Bild: © First Hand Films)

Jules Guarneri, selber wie schon sein Vater auf der Suche nach einer Aufgabe im Leben, hat diese nun wahrscheinlich gefunden: Er ist Filmemacher. Stilistisch ansprechend wirft er einen Blick auf seine eigene Familie – das könnte anstrengend sein, ja banal, aber der Film ist leicht, auch wenn es auch um schmerzhafte Themen geht. Letztlich geht es dabei um Themen, die auch Menschen, die nicht in derart begüterten Familien aufgewachsen sind, kennen: das Ende der Kindheit, der Ernst des Lebens, die Suche nach einer eigenen Identität.

Natürlich hat die Frage nach den eigenen Wurzeln für adoptierte Menschen andere Implikationen – für seine adoptierten Geschwister Iwa und Oskar ist es eine Suche, die immer da ist, wahrscheinlich auch für Iwa, die ihre leiblichen Eltern (anders als Oskar) kennt. Der frühe Tod der Mutter ist zudem ein Trauma für die ganze Familie – das Geld ist da kein Ersatz.

«La nostalgie c’est puissant», sagt der Vater Jean an einer Stelle. Und trotzdem hat er selber keine Mühe, Altes einfach in den Mülleimer zu werfen. Ausgerechnet er, der nie arbeiten musste, sieht es nun als seine Aufgabe, das Alte zu entfernen und seinen Kindern – vor allem Oskar – neue Wege aufzuzeigen.

Ganz anders die fiktive Familie in Léonor Serrailles neuem Spielfilm «Un petit frère». Ende der 80er-Jahre sind sie nach Frankreich gekommen aus Côte d’Ivoire – Mutter Rose mit ihren zwei Söhnen, dem kleinen Ernest und dem älteren Jean.

Mutter Rose mit ihren Kindern Jean und Ernest. (Bild: © cineworx)

Léonor Serraille ist die Regisseurin von «Jeune femme». In ihrem Erstling hat sie das Leben einer weissen Frau namens Paula (Laetitia Dosch) gezeigt; einer Frau, die unbesorgt in den Tag hineinlebt. Das Privileg, sich nicht besonders anstrengen zu müssen, das Privileg, selbst in Mexiko die Sprache nicht lernen zu müssen. Grösser könnte der Kontrast zur Familie des kleinen Bruders nicht sein.

Serraille zeigt diesen Kontrast auch in «Jeune femme» selbst. In ihrem neuen Film wird der kleine Bruder an einer Stelle von der Polizei als Roselmack (Harry Roselmack ist ein schwarzer Moderator und Filmemacher) betitelt – der Rassismus der staatlichen Institutionen wird so zwar nur am Rande gezeigt, aber er ist eben doch präsent. Sich besonders anstrengen zu müssen – das liegt der jungen Frau (Paula) fern.

Die Mutter von Ernest hingegen weiss immer, dass sie sich besonders anstrengen müssen in einem Staat, der sich zwar «liberté – egalité – fraternité» auf die Fahnen geschrieben hat, diesen Claim aber nicht immer einhalten kann.

Der Film endet hoffnungsvoll, mit «Bach à l’africaine» von Sankanda. Auch wenn es Rassismus gibt, auch wenn das Leben der Neuankömmlinge nicht leicht ist (und das einer alleinstehenden Mutter noch mehr) – es gibt für Léonor Serraille Hoffnung.

Wie schon bei «Jeune femme» hat sie auch diesmal Regie und Drehbuch übernommen. Auf den ersten Blick mag es verblüffen, dass sie nach ihrem Erstling «Jeune femme» diesen Stoff in Angriff genommen hat; trotzdem bleibt sie sich nicht zuletzt auch thematisch treu.

«Le film de mon père». Schweiz 2022. Regie: Jules Guarneri. Dokumentarfilm. Deutschschweizer Kinostart am 8. Juni 2023.

«Un petit frère». Frankreich 2022. Regie: Léonor Serraille. Mit Annabelle Lengronne, Ahmed Sylla, Stéphane Bak, Kenzo Sambia, Milan Doucansi, Sidy Tofana u. a. Deutschschweizer Kinostart am 26. Juni 2023.


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