Wie es ist, kein Bär zu sein – Zoljargal Purevdashs «Wenn ich nur Winterschlaf halten könnte» und Peter Mettlers «While the Green Grass Grows»
Ulzii ist ein Teenager in Ulanbaatar, der zwar arm ist, aber ein grosses Physiktalent ist. Er macht mit beim grossen Physik-Wettbewerb in der Hauptstadt – muss aber gleichzeitig seine Familie unterstützen …
Peter Mettler verarbeitet in seinem neuen Dokumentarfilm den Tod seiner Eltern – Trauer ist dabei ein wichtiges Thema, im Hintergrund wirkt aber auch die Pandemie. Wirkliche Hauptdarstellerin ist vielleicht – neben Mettler selbst – die Natur.
Ulzii ist arm, aber begabt. Sein Lehrer ermutigt ihn, beim grossen Physik-Wettbewerb in der Hauptstadt Ulaanbaatar mitzumachen. Auch Ulzii lebt in der Hauptstadt, aber eben nur in einem armen Jurtenviertel. Als seine Mutter schliesslich eine neue Stelle auf dem Land antreten kann, muss er auch noch für seine Geschwister sorgen und nimmt einen riskanten Job an …
Zoljargal Purevdashs Film wurde in Cannes im Rahmen von «Un certain regard» gezeigt – gewonnen hat er dort zwar nichts, aber die mongolische Filmemacherin überzeugt mit einem einfühlsamen Drama um einen Jugendlichen in Ulaanbaatar, zerrissen zwischen der Armut und dem Wunsch nach einem besseren Leben. Seine Mutter ist noch Analphabetin, er selber ist aber in der Schule so gut, dass er Chancen hat, beim grossen Physik-Wettbewerb zu reüssieren.
Aber davon kommt natürlich kein Brot auf den Tisch – und auch die Jurte wird nicht wärmer. Der Film heisst auf Englisch «If Only I Could Hibernate», der Originaltitel kann aber wörtlich übersetzt werden als «(I) Wish I Could Turn into a Bear». Dies ist vielleicht ein stehender Ausdruck auf Mongolisch, der etwa dem deutschen «Wenn ich nur Winterschlaf halten könnte» entspricht bzw. dem englischen «If Only I Could Hibernate».
Auch hierzulande ist dieser Winter ja sicher nicht zu unterschätzen, mit Covid, Grippe und vermutlich doch ziemlich omnipräsenten Erkältungen. Anders als in armen Jurtenvierteln in der Mongolei haben die meisten Menschen hierzulande aber das Glück, bessere Heizungen zu haben – oder überhaupt Heizungen zu haben.
Manchmal wirkt Ulzii sehr hart – es ist die Härte, die ihm die Umstände verordnet hat. Einen Sozialstaat gibt es in der Mongolei wohl nicht; und vielleicht ist es auch wichtig – wie in anderen asiatischen Ländern –, das Gesicht nicht zu verlieren. Erst seinem Grossvater gegenüber kann er auch sein echtes Gesicht zeigen. Es zeigt auch dem Publikum, wie er wirklich ist: so feinfühlig wie dieser Film.
Wie es ist, kein Bär zu sein – auch in Peter Mettlers aktuellem essayistischem Dokumentarfilm geht es genau darum. Es geht darum, wie es ist, ein Mensch zu sein. Peter Mettler, kanadisch-schweizerischer Filmemacher, ist kein unbeschriebenes Blatt in der Filmszene. Seine Eltern, Freddy und Julie, sind nach Kanada ausgewandert. Warum, sagt er uns nicht in seinem neuen Film.
Tagebuchartig nimmt Peter Mettler Abschied von seinen Eltern. Julia, genannt Julie, stirbt bereits vor der Pandemie. Alfred, genannt Freddy, lebt noch etwas länger. Er ist nicht der Einzige aus Mettlers Umfeld, der meint, die Pandemie sei die Natur, die so zu ihrem Recht kommen wolle.
Noch vor der Pandemie aber reist Mettler mit seinem Vater in die Schweiz, wo dieser die Asche seiner Frau Julie in den Fluss gibt (in den Rhein?). «Rhein», das komme von «fliessen», so Peter Mettler, und wahrscheinlich stimmt diese indoeuropäische Etymologie auch. In der Landi sehen wir Kühe in der Form von Schleich-Figuren.
Es ist eine eher ländliche Schweiz, die Mettler zeigt. So oder so ist die Natur hier eine der Hauptpersonen – man merkt, wie sehr Mettler spirituelle Fragen interessieren. Religion ist da weniger das Thema, auch wenn: Immerhin wird Thích Nhất Hạnh zitiert. Mettler stammt zwar gleich doppelt aus dem Westen, die Bewunderung der asiatischen Spiritualität war aber auch schon in früheren Filmen ein Thema.
Kurt Vonnegut wird auch zitiert: Wie für die Aliens ist auch für den Filmemacher Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nicht klar auseinanderzuhalten. Der Kreis schliesst sich. Wir sind wieder dort, wo der Film angefangen hat. So ist es, ein Mensch zu sein. Der Mensch ist Alien, aber auch Erdenwesen.
«Baavgai bolokhson». Mongolei/Frankreich/Schweiz/Katar 2023. Regie: Zoljargal Purevdash. Mit Battsooj Uurtsaikh, Batzorig Sukhbaatar, Ganchimeg Sandagdorj u. a. Deutschschweizer Kinostart am 11. Januar 2024.
«While the Green Grass Grows». Schweiz/Kanada 2023. Regie: Peter Mettler. Mit Julia Mettler, Alfred Mettler u.a. Deutschschweizer Kinostart am 11. Januar 2024.
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