Gefangen in der Kältekapsel

Der Münchener Bestsellerautor Bernd Späth lässt einem mit zwei Arktis-Büchern das Blut in den Adern gefrieren. Die Antwort aus dem ewigen Eis ist unerbittlich.

 

 

Man müsste den Anblick, die Konfrontation mit dem Unermesslichen, verstehen, um Bernd Späth zu verstehen. Am Telefon sagt der Münchner Autor, nach seinem Schreiben gefragt, ungeduldig lachend: „Wenn es nicht um alles geht, dann interessiert es mich nicht.“ Es sei einfach unmöglich, jemandem, der nicht dort gewesen sei, das Locken und das Saugen des Packeises zu erklären. Die existenziellen Fragestellungen, die Temperaturen von mehr als vierzig Grad unter null (im April), das jeweils viermonatige Ausbleiben von Tag beziehungsweise Nacht und das Wissen, dass sich im vielfältig leuchtenden „endlosen Weiss“ eine eigene mystische Welt verbirgt, die man nicht sieht, da der Horizont monumental ist und unter den eigenen Füßen ein Wesen sich räkle, „das sich dehnt und das sich reckt, das frisst und das scheisst“. Und so leben Eisbären, Rentiere und Robben im Weiss, Polarfüchse und Millionen von Vögeln, ist das Eis eine Welt, die im Licht ertrinkt, zugleich aber ihre Gefahren und Fallen hinter eben diesem Licht versteckt.

 

„Es gibt keine rationale Begründung für meine Faszination“, bekennt der Autor. Bei einer Lappland-Reise habe es ihn gepackt. Davor schon im Nachtdunkel eine Autofahrt zu der Insel Hailuoto zwanzig Kilometer über das Packeis des Bottnischen Meerbusens habe gereicht, um einen unwiderstehlichen Ruf zu hören. Nach Hailuoto und Lappland kam dann nur noch das Polargebiet: „Damit war schlagartig alles klar. Die Arktis wirkte stärker als Heroin.“

Bei Späths eben erschienenen arktischen Erzählungen „Mortens langer Marsch“ wirkt die Arktis auch so persönlich und verheerend wie Heroin. An seinem Arbeitstisch in München erklärt Bernd Späth, es sei die Frage nach dem „woher kommen wir, wohin gehen wir“, man käme näher an die Antworten heran dort droben, fände zu sich selber ohne jemals in der eigenen Mitte verharren zu können. Die Erzählung „Mortens langer Marsch“ beginnt harmlos genug: Dienstschluss für Morten Aarskog im Büro des defizitären norwegischen Kohlebergwerks auf dem Eiland Spitzbergen. Auf dem Heimweg, die Kapuze mit Mundschutz übergezogen, normale Begegnungen mit Nachbarn unten am Fjord und die Feststellung, dass der Schneesturm ruhig nachlassen könnte.

Mit dem Öffnen der eigenen Haustür beginnt der Anfang vom Ende von Mortens langem Marsch. Der Mittvierziger führt eine zutiefst unglückliche Ehe. Die Geburt der beiden Söhne hat Gunhild verändert, sie ihm entfremdet und Morten fühlt sich hilflos, fühlt sich dauernd angegriffen, und auch die körperliche Liebe ist nur noch Last statt Trost: „Erschöpft und voller Leere starrte er zur Decke: Ich verstehe dich nicht, sagte er, wirklich, ich verstehe dich nicht. – Wirklich, ehrlich, ich schaffe es einfach nicht. Gunhild wandte ihm den Kopf zu, legte die Nase auf seine Schulter. Massierte mit den Lippen seinen Oberarm. Ich brauche dich, sagte sie.“ Und meinte nur seinen Körper.

Diese Ehe muss ein langer, zehrender Marsch gewesen sein. Auf jeden Fall muss Morten hinaus, hinaus in die Wildnis, wo er Freiheit findet und im Durchschneiden einer Fuchsgurgel auch ein wenig Legitimation für sich selbst. Im staatlich subventionierten Kohlebergwerk jedenfalls findet er sie nicht und seiner Frau hält er schon lange nicht mehr stand: „Er wusste, wann er im Schnee zu graben hatte, um zu überleben, und dass ein Arm voller Zeitungen Erfrierungen verhinderte, wenn man sie um die unterkühlten Gliedmaßen wickelte. Doch er fror bei dem Gedanken an den Körper, den er in Kürze zu Hause vorfinden würde.“

 

„Er wusste, wann er im Schnee zu graben hatte, um zu überleben, und dass ein Arm voller Zeitungen Erfrierungen verhinderte, wenn man sie um die unterkühlten Gliedmaßen wickelte. Doch er fror bei dem Gedanken an den Körper, den er in Kürze zu Hause vorfinden würde.“

 

Die dritte Erzählung in dem Buch dreht sich um eine von Bernd Späths eigenen Expeditionen, die inzwischen dreissig Jahre zurückliegt. In seinen eigenen Worten ausgedrückt, war er 1983 noch ein „Umsatzhengst“ in seiner jungen PR-Agentur in Bonn: „Morgens war ich losgeflogen, um neun Uhr hatte ich den Vertretern eines Wirtschaftsverbands ein PR-Konzept präsentiert, danach hatte ich einen Stapel Korrespondenz wegdiktiert und mich über meinen Steuerberater geärgert. Abends hatte ich dann die gürtellang-brünette PR-Assistentin eines meiner Kunden heimlich zu Gast, auf der ich buchstäblich vor Übermüdung eingeschlafen war.“

Letztlich ging es für Späth auch in den Achtzigerjahren ums Ganze: Es kann keine einfache Sache gewesen sein, im Auftrag der Brüsseler EU gute Stimmung für einen europäischen Binnenmarkt zu machen. Gerade auch weil, wie Späth sagt, schon damals allen Beteiligten in Brüssel und Bonn klar gewesen sei, dass nicht nur Griechenland gefälschte Bilanzen vorlegte.

Das Kopfschütteln am anderen Ende der Leitung ist wohl nur eine Vorstellung, aber Bernd Späth stellt klar, er sei in jungen Jahren Mitglied der SPD gewesen, dann jedoch habe er sich „aus Gründen der Unabhängigkeit im Kopf“ aus Parteien herausgehalten und heute wäre er – wenn er denn für jemanden wäre – für die Piraten: „Die sind für mich die Einzigen, die einem restlos abgekoppelten Apparat die Idee von Transparenz und Mitbeteiligung entgegensetzen.“

In den Nachkriegsjahren geboren, wird Späth im bayerischen Geburtsort Fürstenfeldbruck von dieser Zeit immer wieder eingeholt: Nach der Veröffentlichung seines Romans „Trümmerkind“ von 2002 und dem Abschied von Bonn – Bundestag und Regierung sind ja auch weg nach Berlin – kehrt der Autor in die Heimat zurück. „Ich hatte dreißig Jahre lang Heimweh und dachte, ich würde nach Hause kommen.“ Doch das wurde zum Flop: Nicht bei allen in seiner Heimatstadt war das „Trümmerkind“ gut gelitten. Er habe zwei Jahre lang eine Pistole getragen und mit durchgeladener Waffe auf dem Nachttisch geschlafen, sagt Bernd Späth. Bis es dahin kam, hatte man ihm den Gartenzaun angezündet, Drohungen geschickt, ausgebrannte Grablichter auf die Gartentorpfosten gestellt, regelmäßig anonym angerufen und dazu unter Späths Namen 600 bis 700 wüst antisemitische Gastbeiträge auf Internet-Foren gepostet.

Er habe ein Tabu gebrochen, die antisemitische Stimmung aufgegriffen, die nach dem Krieg noch überall geherrscht habe. Mit der Heftigkeit der Reaktion allerdings habe er so nicht gerechnet. Die deutschen Nachkriegsjahre also sind neben der Arktis Späths zweites grosses Thema,  und so erscheint das „Trümmerkind“ als sein literarisch bisher dichtestes Werk. Nicht nur schaut dieser Roman seinen braunen Protagonisten genauestens aufs Maul, – die Geschichte seines Trümmerkindes zeigt parabelhaft auf, wie der Krieg sich auch nach seinem Ende noch auf ein Kind auswirkt, ihm Kindheit und Unschuld raubt. Die Bilder sind eindringlich: Der dauerbesoffene Großvater, der Vater vom Krieg traumatisiert, die skrupellos ehrgeizige Mutter, die schließlich ohne ihr Kind durchbrennt, weil sie ihre Ehe nicht mehr erträgt.  Dazu eine Umgebung, gefangen in einer Sprachlosigkeit, in der viel geredet wird. – Bis zu seinen Arktisgeschichten scheint dieses Motiv immer wieder durch.

Als die deutsche Produzentenlegende Luggi Waldleitner seinen Bestseller „Seitenstechen“ mit den Supernasen Thomas Gottschalk und Mike Krüger  verfilmte, erklärte Späth zornentbrannt, dann könne man auch Franz-Josef Strauss den Schwanensee tanzen lassen. Ein Pressekrieg begann, Waldleitner schäumte vor Wut, Späth wurde nicht zur Premiere eingeladen. – Trotz seiner bisher fünf Romane, einer Novelle und einem Erzählband; trotz vier Theaterstücken, die es bisher auf 850 Vorstellungen brachten; trotz aller geschäftlichen Erfolge mit seinen Firmen; trotz der vielen Reisen und zahllosen Abenteuer, darunter zwei überstandene Eisbärenangriffe, – am Ende holte das Existenzielle Bernd Späth mit einer beinahe tödlich verlaufenen Herzmuskelentzündung ein. „Ich war über fünf Jahre lang außer Gefecht gesetzt. Danach war nichts mehr, wie es war.“

Abgekoppelt von der Jagd nach Umsatz mit zwanzig Angestellten, arbeitet Bernd Späth heute als Coach, nicht zuletzt mit dem Ziel, Konflikte zu bearbeiten und Führungskräfte vor dem um sich greifenden Burnout zu schützen. Dabei greift er auf eigene Erfahrungen und auf seine psychoanalytische Ausbildung zurück. Gleichzeitig aber ist es auch die Fortführung der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Schichten seiner  eigenen Biografie.

Während Eiswürfel im Wodka keine lange Geschichte erzählen, sind in den tieferen Eisschichten der Arktis Jahrzehntausende gespeichert, für Forscher ist das Eis lesbar wie ein Buch. Wie schwierig es jedoch ist, sich selbst dieser monumentalen Landschaft entgegenzusetzen, sie zu lesen und in ihr zu überleben, das ist für Bernd Späth ein unentrinnbares Motiv: Im Roman „Gibt es Eis in Oklahoma?“ treiben ein Vater und sein 12-Jähriger Sohn nach der Robbenjagd auf einer abgebrochenen Eisscholle dahin.

 

Wie schwierig es jedoch ist, sich selbst dieser monumentalen Landschaft entgegenzusetzen, sie zu lesen und in ihr zu überleben, das ist für Bernd Späth ein unentrinnbares Motiv.

 

Frieren, Durchhalten, mit existenziellen Ängsten kämpfen und vielleicht am Ende noch Einsicht und damit innere Freiheit im Angesicht des Todes gewinnen? Die starke und wortkarge Geschichte dieses Romans erschafft mit minimalen Mitteln eine bedrückende Welt, die Kälte wird zur allumfassenden Kapsel, in der die Fehler des eigenen Lebens hermetisch eingeschlossen sind. Die Passage, als die Scholle auseinanderbricht, Vater und Sohn auseinanderreisst, der Sohn am Erfrieren ist und der Vater ihn am Ende erschiesst, um ihm diesen grausamen Tod zu ersparen, ist in ihrer Kargheit literarisch brillant und gleichzeitig etwas vom Schlimmsten, was man lesen kann: „Über Kimme und Korn beobachtete Hagen ihn. Der Kleine lag reglos auf dem Bauch mit verkrampften Gliedmassen. Wie bei den Robben. Wenn der erste Schuss sie nicht umbringt, haben sie diese Schocklähmung, dachte Hagen bei sich.“

In einer weißen Hölle dem eigenen Ende entgegentreibend, schiesst der Vater sogar noch ein zweites Mal. Versucht sich umzubringen, findet nicht den Mut dazu und verliert am Ende auch noch seine Büchse, die ihm lebenslange Begleiterin war. Beim Sterben im Eis kommt die Einsicht: Er, der immer nur ein harter Jäger gewesen war, hätte der Zartheit seines Kindes  mit Achtung begegnen müssen statt mit Verachtung.  Zu spät erkennt er sein Versagen vor der Aufgabe, dem Kleinen ein Vater zu sein und nicht nur ein mitleidloser Zuchtmeister.

Die Psychologie von „Oklahoma“ ist so bedrückend wie die der Erzählung „Mortens langer Marsch“.  Am Ende scheitert auch dieser Jäger an einer Frau. Seiner Frau. Solveig mag gemütliche Fernsehabende, sie will reden, will mit ihm ins Bett, darauf beschränkt sich ihr ganzer Horizont. Dem Naturmenschen Hagen aber ist das unheimlich.  Der Fallensteller Morten versteht seine Frau genau so wenig wie der Jäger Hagen. Als Morton sich weit draussen in der arktischen Nacht entschliesst seine gescheiterte Ehe zu beenden und sich von einer Partnerin zu trennen, die sein eigenes Leben nur noch vergiftet, da hat die Arktis längst anders für ihn entschieden. Auch Morten wird vom Eis gefressen und stirbt einen erbärmlichen Tod in der weißen Unendlichkeit.

 

Der Autor mag den Vergleich mit Ernest Hemingways Erzählung „The old man and the sea“, wie er generell die angelsächsischen Autoren bevorzugt.

 

„Die Idee zu Oklahoma habe ich über zehn Jahre lang halbfertig mit mir herumgetragen. Die ganze Vater-Sohn-Dramatik in dieser Härte, die stellte sich erst nach und nach beim Schreiben ein.“ Der Autor mag den Vergleich mit Ernest Hemingways Erzählung „The old man and the sea“, wie er generell die angelsächsischen Autoren bevorzugt. Doch der Fischer, der erst auf seiner letzten Ausfahrt den  grossen Fang an seiner Angel hat, ist eine Metapher für das menschliche Streben und für die Vergänglichkeit des Glücks. „Oklahoma“ und „Morten“ hingegen sind da um einiges beunruhigender: Jede Einsicht kommt zu spät, die Arktis ist zutiefst ungerecht und verschluckt selbst jene, die gekommen sind, um Freiheit und Absolution in ihrer Unendlichkeit zu finden. Die Eiswüste als endlos schöne und doch absolut unerbittliche Willkürherrscherin.

Entsprechend gezeichnet sind Späths Frauenfiguren: Die innerlich zerrissene Solveig in „Oklahoma“ kommt mit der Einsamkeit ihrer Umgebung ebenso wenig zurecht wie mit der in ihr selbst. Ihr Wesen scheint auf ihre Sexualität reduziert, die sie als Instrument einer archaischen Rache gegen den eigenen Ehemann richtet, – der sich ihr gerade deshalb schon seit langer Zeit verweigert. In der Agonie des eigenen Erfrierungstodes fragt Hagen sich, ob der kleine Halvard überhaupt sein Sohn sei.  Als bittere letzte Einsicht bleibt ihm, dass er den Zwölfjährigen, der ihn vergötterte,  hätte annehmen und beschützen müssen. Und damit die Erkenntnis existenziellen Versagens im Angesicht des eigenen Todes.

Auch Morten ist ohnmächtig gegenüber seiner streitsüchtigen Ehefrau, deren Untiefen er längst nicht mehr versteht. Gunhild benutzt ihre Libido als Instrument kalter Herrschaft über ihn, während Morten nur „reden“ will. Einzig Swetlana, die junge russische Krankenschwester aus Späths Erzählung „Russki gutt?“ bleibt ein begehrenswert positives Mysterium, ein schillerndes Nordlicht und ein Versprechen für den übermüdeten, durch einen Sturz vom Motorschlitten verwundeten Autor. Gebeutelt von Erschöpfungszuständen und einem schweren Wodkakater, verliebt er sich in sie und verliert sie umgehend – da ist das Thema wieder! – an die arktische Natur, die ihm mit der vorzeitigen Eisschmelze den Weg zu ihr versperrt. So bleibt Swetlana ein unerfülltes Versprechen und Bernd Späth überlebt, um von seinen Reisen zu erzählen.

 

Späth ist ein rastloser Autor und eine Nachteule. Tagsüber kümmert er sich um seine Coaching-Praxis und ab zehn Uhr abends sitzt er jede Nacht bis zwei Uhr an seinem Manuskript.

 

„Auch falls ich neunzig werde,  – ich werde nicht aufhören, diese Geschichten zu erzählen“, sagt Bernd Späth. Während er die beiden unveröffentlichten Bände  seiner deutschen Nachkriegstrilogie gerade verlagsfertig macht, arbeitet er an einem neuen Roman über seine Erfahrungen in Arabien. Vor mehr als zehn Jahren war er dort in einen Machtkampf involviert und musste auf Anraten der Bonner Kripo am Ende eine kugelsichere Weste tragen. Die ersten fünfhundert Seiten sind geschrieben.

Späth ist ein rastloser Autor und eine Nachteule. Tagsüber kümmert er sich um seine Coaching-Praxis und ab zehn Uhr abends sitzt er jede Nacht bis zwei Uhr an seinem Manuskript. Bei aller Schriftsteller-Romantik, ein Bild das Gänsehaut auslöst: Die Vorstellung, Mitternacht sei vorbei,  gleich nebenan schlage die Forstenrieder Turmuhr, und im Kegel seiner Schreibtischlampe schreibt Bernd Späth eine Szene, in der ein Vater seinen Sohn erschiesst, damit dieser nicht bei lebendigem Leib auf einer Eisscholle festfriert. Es ist diese Furchtlosigkeit, diese letzte, mitleidlose Konsequenz erzählerischer Darstellung, die „Oklahoma“ für den Leser zur existenziellen Erfahrung und das Buch zum literarischen Meisterwerk macht.

Einige Gedanken zu “Gefangen in der Kältekapsel

  1. Jutta Rudorf

    Hier kann ich noch nicht mitreden, doch sicherlich demnächst. Also bis bald
    Jutta Rudorf


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