«Nicht-Orte» von Marc Augé – 2. Teil aus Elias Fausers «Wertloser Bibliothek»

Im zweiten Teil seiner Reihe «Die wertlose Bibliothek» stellt uns Elias Fauser Marc Augés Werk «Nicht-Orte» vor.

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«Die Nicht-Orte, die von der Moderne geschaffen wurden, leben in der Postmoderne fort und bieten ein tristes Schauspiel der Vereinsamung (siehe das Cover). Dies kulminiert in digitalen Nicht-Orten, die den Menschen jederzeit als Ausflucht zur sozialen Interaktionen bereitstehen. Flimmernde Lichtquellen mit wahllosen Inhalten zirkulieren im Abseits und kreieren in ihrem Gesamt eine Szenerie des gedanklichen Schweigens.» (zVg)

Nein, «Nicht-Orte» von Marc Augé ist keiner der verstaubten anthropologischen Wälzer, die man nur sachte aufblättern darf, da sonst das feine Papier in den eigenen, groben Fingerkuppen zu bröseln beginnt. Kein Leineneinband oder Emblem ziert die stolze imperialistische Errungenschaft von Feldforschung in wilden, fremden Gebieten. Die Zeiten, in denen sich die Ethnologie über Tropenhüte und stark profilierte Wanderschuhe definierte, sind passé. Ethnologen – das ist längst klar – sind darin gescheitert, das Soziale zu vermessen, indem sie «dicht beschreiben» (Geertz), mit Notizblöcken oder Papyrusrollen.

Das leichte Büchlein «Nicht-Orte» zeigt einen leeren Parkplatz. Kultur: Westlich. Motiv: Konsum. Mobilität: Auto. Es ist – und dies macht der Autor schnell und unweigerlich deutlich – eine Ethnografie des Nahen. Sie betrifft uns alle.

Dass die Thematik «Raum» und «Räumlichkeit» in den letzten drei Dekaden ein Schattenpflänzchendasein fristete und nun plötzlich wieder ins Tageslicht des literarischen wie wissenschaftlichen Interesses zurückgeholt wird, macht sich sehr leicht an der Neuauflage dieses von Marc Augé 1991 verfassten Werkes fest.

Doch warum? Der Raum ist doch ohnehin erschlossen. Google-Earth bildet jeden Zentimeter der Erdkugel ab und Telekommunikation via Apfel geschieht zudem in nahezu gleichgeschalteter Gleichzeitigkeit. Es besteht keinen Zweifel daran: Die Vermessung der Welt ist abgeschlossen. Raum spielt keine Rolle mehr. Oder?

Augé widerspricht hier nicht, aber er spezifiziert. Er unterscheidet die spatiale, geographische Erschliessung von Raum und die soziale. Letztere bezieht sich darauf, dass ein Ort nicht per se ist, sondern gebildet wird. Augé: «Sobald Individuen zusammenkommen, bringen sie Soziales hervor und erzeugen Orte.» (ebd., 110). Raumbegriffe wie «Wege», «Schnittpunkt» oder «Zentrum» (vgl. ebd., 69) müssen in dieser Hinsicht neu gefasst werden: Welche Interaktionswege sind gangbar? Welche kommunikativen Schnittpunkte werden an welcher Stelle deutlich? Und wo ist – ungleich zum Stadtkern – das Zentrum des Ortes wirklich?

Augés kritisches Auge richtet sich auf jene Orte, die eine eigenartige Paradoxie vereint. Sie sind voll mit Menschen und doch in sich leer. Er nennt sie «Nicht-Orte».

Diese Nicht-Orte, wie zum Beispiel Flughäfen, U-Bahnen, Flüchtlingslager, Supermärkte und Hotelkette, sind ‚Orte des Ortlosen‘. Man ist nicht heimisch in ihnen. Sie bilden keine individuelle Identität aus, haben keine gemeinsame Vergangenheit und schaffen keine sozialen Beziehungen. Sie sind Zeichen kollektiven Identitätsverlusts.

«Der Nicht-Ort ist das Gegenteil der Utopie; er existiert, und er beherbergt keinerlei organische Gesellschaft.» (Augé 2012, S. 111)

Die Nicht-Orte, die von der Moderne geschaffen wurden, leben in der Postmoderne fort und bieten ein tristes Schauspiel der Vereinsamung (siehe das Cover). Dies kulminiert in digitalen Nicht-Orten, die den Menschen jederzeit als Ausflucht zur sozialen Interaktionen bereitstehen. Flimmernde Lichtquellen mit wahllosen Inhalten zirkulieren im Abseits und kreieren in ihrem Gesamt eine Szenerie des gedanklichen Schweigens.

Das Buch endet im Düsteren, doch der Leser spürt, dass Augé genau jene Kehrseite von Nicht-Orten nicht beleuchtet hat, die der gesellschaftlichen Evolution zum wiederholten Male einen dialektischen Twist verpasst. Sind es nicht die Nicht-Orte, die Raum für neue Strukturen bieten? Die nicht mit Geschichte belegt sind? An denen sich Menschen finden können, aber nicht müssen? Die Raum Raum sein lassen?

Um es in die Worte von Camus einzupassen: Müssen wir uns einen Nicht-Ort nicht als einen glücklichen Ort vorstellen?

Marc Augé
Nicht-Orte
Aus dem Französischen von Michael Bischoff
Dritte Auflage, 2012. 137 S.
C.H.BECK
ISBN 978-3-406-60568-0

Dieser Text erschien zeitgleich auf «Zeitnah» und Elias Fausers Blog www.offjournal.de. Der Prolog zur wertlosen Bibliothek findet sich hier.

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2 Gedanken zu “«Nicht-Orte» von Marc Augé – 2. Teil aus Elias Fausers «Wertloser Bibliothek»

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