Fragebuch Oktober 2013 – Dieter Zwicky
Vorvorgestern, 10. Oktober, ist «Slugo – Ein Privatflughafengedicht» bei edition pudelundpinscher erschienen: ein Stück Prosa, welches Dämmern und Vernebeln der Erzeugung psychophysischer Stimmigkeit vorzieht. Doch Vorsicht – hinter dem Textrücken drängeln sich Ansichten einer geradezu grausam realen Welt. Vielleicht sind Worte ja Gegenstände, aus Holz, aus Bakelit, aus Koriander?
Dieter Zwicky schreibt seine Gegenstände seit nunmehr 8 Jahren in Uster, einer Kleinstadt im Nordnordosten Zürichs, welche nach unreifem Brie und nach Karbolineum riecht; also trägt man, um sich nicht zu verletzten, einen Nasenschutz. Dieter Zwicky hatte im Jahr 2005 einen vielbeachteten Auftritt am Klagenfurter Bachmann-Preis.
1. Auf was kannst Du eher verzichten: Lesen, Schreiben oder Essen? Warum?
Auf Lesen und Schreiben! Essen ist keine Arbeit. Wein begleitet Essen. Schlafen folgt auf Essen.
2. Was ist schlimmer: das letzte gesprochene Wort eines sterbenden Menschen nicht verstehen oder das letzte geschriebene Wort eines gestorbenen Menschen nicht entziffern zu können?
Wenig Erfahrung mit solcherlei letzten Dingen. Eschatologie ist die Fülle der Aussagen ‚nach der Grenze’. Ich finde schon fürs Diesseits der Grenze kaum Aussagen. Na also.
3. Was ist dir lieber: eine durchschlafene Nacht oder eine Nacht, in der du vor lauter Schreibinspiration nicht schlafen kannst? Warum?
Gelingt es mir, das, was man sich unter Schreibinspiration vorzustellen hat, zu entromantisieren, das heisst von der Traumzone Nacht ins Tagwerk zu verlegen, ist mir das am allerliebsten. Ich weiss nämlich, dass die guten Bilder die seltene Gabe haben, zwischen Nacht und Tag nicht zu unterscheiden.
4. Wie wichtig ist der Gedanke ans Lesepublikum für dein Schreiben?
Wenn sich im Lesepublikum mit letzter Gewissheit eine makellose Wange befände, die ich im Tiefflug ansteuern und darauf anhimmeln könnte, würde ich auf der Stelle damit beginnen, ausschliesslich fürs Lesepublikum zu schreiben. Aber wer weiss schon, wann sie zweifelsfrei auftritt, die makellose Wange?
5. Hast du eine zentrale Schreibregel?
a) Wie nennst du diese Regel?
Dem Satz geht etwas voraus …
b) Was hat es damit auf sich?
… und kommt etwa als Musik hinein in den Satz. Ich weiss es nicht! Ich hoffe es! Übergänge sind das Delikateste, Wichtigste, sind Zauber, Köder, Vitalitätsgaranten! Das gelogene Satzgesamtwunder Literatur darf, darf bis zum Satzende nicht abbrechen! Dort darf es ruhen, dort darf es das Überwunder eines nachfolgenden Satzes ausköcheln.
Alles ist gelogen, doch alles ist aufs Herrlichste ausgekocht. Mein strengster Kochlehrer beim Schreiben: eigene Regeln. Das Eigene verweist auf dieses bisschen Wahrhaftigkeit in all dem Geflunker ungedeckter Worte.
6. Wie viel von der SchriftstellerIn steckt in dir als Privatmensch?
Ich bin nicht privat, ich bin depraviert. In ein solches Wort verliebe ich mich ausdrücklich auch im Privatleben.
7. Wie viel vom Privatmensch steckt in der SchriftstellerIn?
Schreiben: Entstellen (von depravare). Demnach folge ich einer staunenswerten Notwendigkeit, mich mittels A-I-Vokaltauschs (Definition fürs Schreiben) aus der Privatheit zu retten: in die Depravierung.
8. Haben SchriftstellerInnen der Öffentlichkeit mehr zu sagen, als in ihren Büchern steht?
Ja, dies: Die Metalllegierung des analogen Weckers vollständiger benennnen. Damit allerdings hat es sich.
9. Wer glaubt eher, dass SchriftstellerInnen mehr zu sagen haben, als in ihren Büchern steht: die SchriftstellerInnen oder die Öffentlichkeit?
Die Öffentlichkeit. Die gesamte Öffentlichkeit wird – welch versammelte Glaubenspotenz – dereinst Theologie studiert haben.
10. Brauchen SchriftstellerInnen heutzutage Schriftsteller-DarstellerInnen, öffentliche Personae, Masken?
Ja, spätestens vor dem Spiegel. Oder auf der Bühne. Doch Vorsicht: Die Maske ‚Ehrlichkeit’ gibt’s nur in Übergrössen, und sie ist in der Regel aus bruchgefährdetem Plastikderivat.
11. Was ist wichtiger: als SchriftstellerIn in allen möglichen Belangen medienwirksame Antworten zu wissen, oder das eigene Schreiben aufrechtzuerhalten?
Das eigene Schreiben muss selbst unter der Grenzbedingung der Tatsache, dass draussen ein einigermassen zerrupft wirkender Lindenbaum nun auch noch seine Blüten zu verlieren beginnt, aufrechterhalten werden; medienwirksames Antworten dagegen hat vielleicht gar bis übers Saisonende hinaus ganz einfach zu verstummen.
12. Was ist für SchriftstellerInnen gefährlicher: keine Interviews geben zu können oder das Schreiben zu vernachlässigen?
Alles, alles ist gefährlich. Sogar im Rasierschaum west die Gefahr. Drum: Schaum in die Augen und schreiben! Während des Interviews Brauenrasur.
13. Schreibst du gerne?
Ich schreibe gerne, ich schreibe das sogar gerne hin. Bin ein Berufsfröhlicher.
14. Welches Tier schaut dir beim Schreiben zu?
Meine liebe, liebe, müde, semikranke, dufte, gehemmte Hündin Lina, unser Lineli.
15. Kannst du schreiben, wenn jemand zuschaut?
Wenn Lina mich in Blick nimmt, ja. Denn ich empfinde so stark: Was Lina, die liebe, liebe, müde, semikranke, dufte, gehemmte Bulldoggenfrau, unser Lineli sieht, wenn sie mich anschaut, erreicht ein ordnendes Zentrum nicht. Das heisst, Lineli hat sozusagen alles vom Schreiben kapiert; sie ist meine Kollegin. Schnarcht meine Kollegin: Linas Werk. Steht Kollegin Lina vor dem leeren Futtertopf: Oeuvrekomplettierung. Neulich hat sie neben dem nichtgebührenfreien Abfallsack eine Art Bellgeräusch erzeugt. Dem meinte ich augenblicklich die Aufforderung entnehmen zu dürfen, binnen Wochenfrist mit der Werkexegese substanziell begonnen zu haben.
16. Liest du gern?
Ich lese nicht ungern. Aber meine Augen lesen das nicht gern: keine Fensterli zur Welt, leider.
17. Liest du gern vor?
Ja. Die oben angesprochene Linde hat auch nach der langen Lesung (übers Saisonverhalten der Linden) noch immer ein paar Blüten am kahler gewordenen Astwerk hängen. Ich haben deren Alterung vorlesend hinausgezögert: die Macht des Worts, häh.
18. Was hat sich im Lauf deines Schreibens dem Lesen oder Vorlesen gegenüber verändert?
Dem Anspruch, das musikalische Gewicht (Übergang!!!) eines eigenhändig gesetzten Kommas vor Publikum lesenderweise auszukosten, genüge ich heute bisweilen fast schon schamlos.
19. Was sagst du zu Daniel Kehlmanns Zitat: «Erzählen heisst, das Leben so zu gestalten, dass es dramaturgisch besser funktioniert als in der Wirklichkeit»?
Plot-Huberei, sage ich (nur, weil man mich gefragt hat).
20. Ist es nach einem Bestseller einfacher oder schwerer oder gleich schwer, weiter zu arbeiten?
Am leichtesten fiele es, ins Koma zu fallen. Damit (und gewiss nicht ohne Wein) wäre eine Weiterarbeit, will hier wohl sagen: die Arbeit an nächsten Bestseller am erfolgreichsten unterbunden.
21. Wie wirkt sich Ortsgebundenheit auf dein Schreiben aus?
Da atmet mein Schreiben auf! Mein Schreiben atmet also dauernd auf. Gefahr: oxidierte Lungenflügel, versetzen einen in artifizielles Höhegefühl, verleiten also zu Pathosschwere, was in Übergangserblindung resultieren muss. Siehe Schreibregel.
22. Wie wirkt sich das Unterwegssein auf dein Schreiben aus?
Immer dieses Unterwegssein, das von der Einflussnahme träumt! Dabei missachtet es, das Unterwegssein, die banalsten Grundregeln der Kausalität: Selbst der Reiseprospekt der Mittelthurgaubahnen besteht seinem Wesen nach vorab aus Worten. Ich reise durch rhätische Enge allmählich ins Engadin. Meine Notiznahme der spektakulärsten Kletterrouten der Lofoten liess mich neulich in meinem Wunschloft (in New Haven) einen Abendtee zubereiten, welchem eine besonders luftige Wirkung an lofotischer Nachtverkennung zugesagt wird.
23. Es gibt Leute, die verpassen eine Fahrt durch die Anden, den Sturzflug eines Adlers, der eine sich windende Schlange ergreift und davonfliegt, indem sie Gedichte lesen. Bist du da auch gefährdet?
a. Falls nein: Liegt es an dir oder an der Lektüre?
b. Bei welcher Lektüre wärst du am ehesten gefährdet?
Es gilt instantly, Gestimmtheiten ernst zu nehmen, die sich (ungefähr) wie Aversion gegen überhandnehmende Lektüreverklärung anfühlen.
24. Wie schreibst du? Im Kopf, handschriftlich oder am PC?
Schreiben im Kopf ist Glück, Schreiben am PC die Regel.
25. Wie oft schreibst du ein Manuskript neu ab, ehe du es aus der Hand geben kannst?
Als Wenigschreiber bevorzuge ich – wenig überraschend – nach der ersten Manuskriptfassung die ‚reizmindernden Vorzüge’ (Selbstzitat aus ‚Slugo’ – Ein Privatflughafengedicht) ‚des Schlafs’.
26. Ist das Aus-der-Hand-Geben eines Manuskripts an den Verlag eher befreiend oder bedrückend? Hat sich diesbezüglich etwas geändert in deiner Karriere? der Zeit, seitdem du schreibst?
Bedrückend! Dem Versuch, schreibend am Leben festzuzhalten, ist damit ja auf geradezu hirnrissig voraussehbare Weise Abbruch getan.
27. Würdest du die allerersten Entwürfe deiner Bücher eher gesammelt in den Druck bringen oder im Reisswolf schreddern?
Sofern die Fütterung des Reisswolfs zu geordneten Zeiten erfolgt: Schreddern (ohnehin ein gewaltiges, ein beinahe Unglauben verströmendes Wort voller autoidentischem Geblinzel).
28. Welche Chancen siehst du für die Belletristik im WWW?
Was meint Lina hiezu? Sie braucht noch etwas Zeit, aus der Starkkoma-Phase zwischen Fütterung am Napf und Fütterung am Napf zu erwachen. Dass Lina Netz-Träume träumt, ist ihren lefzkösen Verrenkungen nicht eigens abzulesen.
29. Welche Gefahren siehst du für die Belletristik im WWW?
Verflucht, Linas Schlafkraft widersteht gar der Weckkraft qualitätsvollsten Hundeguezlis. Ich bitte also um mehr Bedenkzeit. (Und: Es versteckt sich, ehrlich, prima hinter dem Hund.)
30. Ist das eBook dem Gutenberg-Buch überlegen oder unterlegen? Warum? Inwiefern?
Bin nun selber übermääässig schläääääfrig.
31. Liest du Ebooks?
(Weckt mich plötzlich mein Hund) Da fragt jemand etwas! Zum Teufel mit diesen Fröglis.
Fragen zu Schreiborten und -unorten, zu Buchschreiben und Buchführen, dazu, was Schreibende heute noch wollen können, was hingegen von der Öffentlichkeit zugeschrieben wird et cetera: Sie alle werden im «Zeitnah»-Fragebuch versammelt und einmal pro Monat einer Persönlichkeit aus Literatur und Umland vorgelegt. Es entsteht ein Panorama der Schreibtemperamente, -methoden, -ansichten.
- Tauben-Blick – Gedicht von Valerie-Katharina Meyer
- Eros und Thanatos – Athina Rachel Tsangaris «Attenberg»