gesichtet #90: Eine Marmorsäule trotzt der Autobahn und den Vandalen

Von Michel Schultheiss

Eine Art Totempfahl ragt mitten im Niemandsland zwischen Autobahn und Schrebergärten in den Himmel. Gleich am Fusse der Galgenhügels, wo der St. Alban-Teich kurz unter der mächtigen Brücke der A2 verschwindet, ist diese stattliche Marmorstele auffindbar. Schon mehrere Mal wurde die Skulptur von Vandalen heimgesucht. Das mag vielleicht daran liegen, dass der Ort nicht gerade der glücklichste ist: Wo sich einst Basels Hinrichtungsstätte befand und heute Lastwagen vorbeidonnern, steht dieses Kunstwerk, umgeben von einem spiralförmigen Fussgängersteg. Lediglich ein paar Spaziergänger und Hundehalter verschlägt es manchmal hierher. Momentan ist Verbindung zwischen der St. Albanteich-Promenade und der Gellertbrücke aber gekappt: Da die Galgenhügel-Stützmauer saniert wird, ist die Brücke – und somit auch einer der wenigen Verbindungen zwischen dem traditionellen Arbeiterquartier Breite und dem Villenviertel Gellert – zurzeit nicht begehbar.

Skulptur von Ludwig Stocker mit Fussgängersteg

«Einrollen Ausrollen»: Die Skulptur von Ludwig Stocker aus dem Jahr 1979 ist umringt von einem spiralförmigen Fussgängersteg (Foto: smi).

Auch wenn es sich eher um einen verwaisten Ecken Basels handelt: Der Schöpfer der zehn Meter hohen Stele mit dem Namen «Einrollen Ausrollen» ist nicht irgendwer. Sie stammt vom renommierten Bildhauer Ludwig Stocker. In Basel sind weitere Werke von ihm bekannt, etwa die «Lagerstätte», die drei Ehrenzeichen Vogel Gryff, Leu und Wild Maa, die am Pfeiler der Mittleren Brücke auf dem Rücken liegen. Auch die Urnennischenanlage des Friedhof Hörnli wurde von diesem 1932 geborenen Künstler konzipiert.

Weit weniger prominent ist die besagte Plastik aus dem Jahr 1979 in einer relativ wenig beachteten Gegend Basels, die von der Autobahn zerrissen wird. Ludwig Stocker gewann in den Siebzigerjahren eine Ausschreibung des Kunstkredit Basel. Seine Skulptur war als spielerische Ergänzung zum Fussgängersteg gedacht. Die Passerelle wurde im Zuge des Autobahnbaus geschaffen, um die Lehenmatte mit dem Gellert für «Unmotorisierte» zu erschliessen. Um den Höhenunterschied zu überwinden und gleichzeitig das benachbarte Waldstück zu schonen, entschied man sich für eine spiralförmige Brücke. Somit kam der Künstler auch auf die Idee einer Stele: «Die Inspiration ergab sich aus der Situation heraus», erklärt Ludwig Stocker. Als Ergänzung zur Fussgängerspirale musste seiner Meinung nach ein «schlankes Zentrum» her.

Stele, Graffiti und Autobahn

Eine Plastik, die umgeben ist von Graffitis und Autobahnlärmschutzwänden (Foto: smi).

Rund 35 Jahre später muss Stocker sagen, dass die Skulptur auf rein formaler Ebene keine schlechte Lösung war. «Die Vertikale passt zur Spirale», meint er. Gleichzeitig musste er hin und wieder auch schlechte Nachrichten vernehmen: Vor mehreren Jahren wurde die Stele zweimal beschädigt. Ein paar Nachtbuben legten gleich unter der Stele ein mächtiges Feuer. Dadurch wurde die Säule geschwärzt und Marmorstücke weggesprengt. Ein anderes Mal gingen die Vandalen mit schwerem Werkzeug an die Arbeit und zertrümmerten Teile der Skulptur. Beide Male restaurierte der Kunstkredit Basel das Kunstwerk wieder. Mittlerweile hat die Plastik Nachbarschaft von zahlreichen Tags und Guy-Fawkes-Konterfeien bekommen, doch die Stele selbst wurde nicht mehr angetastet.

Säule mit Graffiti und Schrebergarten

Schrebergärten und Anonymous: Eine Säule der Fussgängerbrücke, die sich von der Breit zum Gellert hinaufschlängelt (Foto: smi).

Auf den ersten Blick ist das Konzept der Skulptur, welche aus fünf aufeinandergestellten Säulen und vier Würfeln besteht, nicht erkenntlich. Die Plastik soll aber die Evolutionstheorie darstellen. «Ich habe mich in dieser Zeit sehr stark mit diesem Thema befasst, etwa mit der Lektüre von Pierre Teilhard de Chardin und Jean Gebser», erklärt Stocker. Dass es sich bei den Vandalen also um militante Kreationisten gehandelt haben könnte, bleibt zu bezweifeln, denn Stockers Konzept ist nur bei genauerem Hinschauen erkenntlich: Verschiedene symbolische Motive kommen auf der Stele zum Vorschein, etwa Muscheln, Pflanze, Vogel und zuoberst der Mensch.

Skulptur Einrollen Ausrollen

Eine zehn Meter hohe Stele in einer etwas düsteren Gegend (Foto: smi).


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