Geisterhand. Eine Kurzgeschichte von Laura Wohnlich
Wie Lügen das Leben bis zum Schluss behindern können, erzählt die Autorin Laura Wohnlich in ihrer Kurzgeschichte «Geisterhand».
Von Laura Wohnlich
Eine Lüge in seinem Kopf. Sein Atem überschlug sich. Keine Hast verspürte er, erst recht aber das Bedürfnis zu gehen, den Ort zu verlassen, an dem er war, immer schon gewesen zu sein schien, obwohl es so nicht sein konnte, niemand wurde da geboren, wo er starb. Seine Füsse hoben und senkten sich asynchron zum Rhythmus seiner Gedanken, die sich wie ein Waschgang formlos in seinem Kopf umherwälzten, aufgelöst in undefinierbarer Nässe. Vielleicht sollte ich mir diese Bäume etwas genauer ansehen, dachte er, vielleicht wäre mit Achtsamkeit alles zu lösen, aber als er die Baumreihe erreichte, hatte er es bereits vergessen. Seine Finger lösten sich vom Griff des Schirms und der Schirm fiel mit einem seltsamen Geräusch auf den Boden. Er hob ihn nicht auf, hätte ihn auch nicht aufgehoben, wenn es noch geregnet hätte.
Der Zorn sass tief in seinen Nasenlöchern. Bei jedem Schritt quoll ein Teil davon als unsichtbare Stickstoffwolke aus ihnen heraus und füllte sich im nächsten Augenblick mit neuem. Vermutlich war es zu spät, um umzukehren. Es war meistens zu spät gewesen, wenn er irgendwo hatte ankommen wollen. Oder zu früh. Den richtigen Zeitpunkt, so etwas wie das Paradigma der Richtigkeit überhaupt, schien in seinem Leben nur vorhanden zu sein, wenn es nichts von ihm enthielt. Seine Stimme versagte, obwohl er ohnehin nichts zu sagen wusste. So hatte er sich den letzten Tag seines Lebens nicht vorgestellt. Er war sich nicht sicher, ob er sich überhaupt je etwas so vorgestellt hatte, wie es dann geworden war. Die Lüge hämmerte gegen die Innenseite seiner Schädeldecke, er versuchte gar nicht erst, sie zu ignorieren, sie war da, immer schon da gewesen, zuerst in mannigfaltigen äusseren Erscheinungsformen, dann als unbezwingbare Verinnerlichung.
Gesichter fand er im Allgemeinen abstossend. Aber seit Marlene ihn verlassen hatte, hasste er pausbäckige Frauengesichter ganz besonders. Er erklomm die Stufen des Hochhauses, von dessen Dach er sich stürzen würde, mit gleichgültiger Miene. Wozu jetzt noch melancholisch sein? Sein Rücken schmerzte. Zu viel Büro, zu wenig in gute Polstergruppen investiert, zu selten liebevolle Streicheleinheiten, nie. Alles war jetzt egal. Nur nicht, dass er oben ankam. Da machte sich die Raucherlunge nun endlich doch noch bemerkbar, wenige Minuten vor seinem Tod, das war Ironie des Lebens. Als sein Blick auf ein lieblos gerahmtes Bild fiel, das wenig bis gar nicht in das Treppenhaus eines Bürogebäudes passte, fühlte er sich beinahe beschwingt. Alles war doch gut im Grunde. Bis auf sein Dasein. Die Wut aber war verpufft.
Der kühle Wind säuselte um seine geröteten Ohren, als er ganz nach vorne an die Dachkante trat, und schien ihm etwas mitteilen zu wollen, so etwas wie: da unten gibt’s heisse Kastanien, aber ich war nicht stark genug, ihren Duft bis zu dir hier hoch zu tragen, um dich daran zu erinnern, dass es durchaus Dinge gibt, die das Leben lebenswert machen. Aber er hatte sowieso nur Vermicelles gemocht, wenn überhaupt. Marlene hatte immer die Nase gerümpft. Sie war ständig auf Diät gewesen, obwohl er den Eindruck gehabt hatte, dass sie in den vier Jahren, in denen sie zusammen gewesen waren, konstant dicker geworden war.
Vorbei. Ein Vogel salutierte vor einer Altostratus-Wolke. Ein Sonnenstrahl quälte sich einsam durch ein Wolkendickicht. Nirgends ein Flugzeug in Sicht. Der Boden sah verlockend aus. Grau und autofrei, menschenlos. Er streckte die Arme nach oben, aber das fühlte sich unpassend an, als setze er an zu einem ausgelassenen Kopfsprung in ein Schwimmbecken, nein. Er liess die Arme sinken, bis sie parallel zur Dachkante nach Westen und Osten zeigten. Er stellte sich vor, er sei ein menschlicher Kompass, der in den Süden fallen würde. Seine Unterlippe zitterte, aber davon nahm er keine Notiz. Er wollte fallen. Er wollte. Ankommen im Nirgendwo, auf der andern Seite seines Kopfes. Also trat er. Dahin, wo kein Untergrund mehr war. Seine Gedanken plumpsten durch seinen Körper und verklumpten in seinem Magen zu Brei. Sein Kopf war leer, aus seinen Mundwinkeln segelten durchsichtige Speichelfäden. Er fiel. Er hätte nicht gedacht, dass Hemdsärmel so ein lautes Geräusch machen konnten, wenn sie im Wind flatterten. Er sah den Boden näherkommen. Aber er kam nicht an. Ehe er erlöst aufprallen konnte, spannte sich unter ihm wie von Geisterhand gezogen das Lügennetz auf, quer über die Strasse, von Westen nach Osten, durch sämtliche Gedanken, laute und leise, unaufhaltsam durchdrang es alle angenommenen Wahrheiten, die je jemand bewiesen zu haben glaubte, als sei Sterben ebenso eine Lüge wie Leben, und er dachte, der Sturz hat nach heissen Kastanien gerochen, das werde ich Marlene erzählen, falls ich mich aus diesem elenden Netz befreien kann.
Laura Wohnlichs Debütroman «Sweet Rotation» erschien 2017 im Piper Verlag. Zurzeit arbeitet sie an ihrem zweiten Buch.
- Der dümmste Maoist der Welt – Michel Hazanavicius’ «Le redoutable»
- Transit als Dauerzustand