Die unabwendbare Übernahme der Welt

Zum ersten Sonntag des neuen Jahres erscheint bei «Zeitnah» eine Geschichte von Laura Wohnlich, wo ein einfaches Gespräch mit einer Kartoffel horrende Konsequenzen hat.

Die Bedrohung lauert im Kochtopf: Laura Wohnlichs neue Geschichte zeigt die dunklen Seiten der beliebten Knollen auf. zVg

Von Laura Wohnlich

Er konnte nicht sagen, wann genau er angefangen hatte, mit Kartoffeln zu sprechen. Plötzlich war sie einfach da gewesen, die Lust, das Wort an das gelbbraune Nachtschattengewächs zu richten, das geschwellt auf seinem Teller gelegen hatte wie ein Baby in der Wiege, und hatte ihn seither nicht mehr losgelassen.

«Hallo», hatte er gesagt, «ich bin Severin. Wer du bist, weiss ich bereits. Du brauchst dich mir nicht vorzustellen». Tatsächlich hatte Severin dann kurze Zeit später aber anerkennen müssen, dass jede Kartoffel, der er begegnete, sich durch eine bestechende Einzigartigkeit auszeichnete und es ganz und gar nicht richtig sein konnte, sie alle in einen Topf zu werfen. Weshalb er sich auch innerhalb einer Woche fünf neue Pfannen zulegte. Einen schonenden Dampfkochtopf, den ihm seine Mutter empfohlen hatte, ein modernes Niedergargerät, das er sich auf eBay bestellte, eine neue Auflaufform mit Fettschichtschutz und zwei Bratpfannen, eine beschichtete und eine aus Eisen, die so schwer war, dass Severin sie im untersten Regalfach verstauen hatte müssen, da, wo er eigentlich nur Back-und Haushaltspapier aufbewahrte.

Es war aber nicht nur die Begeisterung über die mannigfaltigen Verwendungsmöglichkeiten, die Severin dazu veranlasste, ein Gespräch mit der Kartoffel zu beginnen, auch nicht ihr urchiges Erscheinungsbild per se, ihre rustikale Bodenständigkeit, die ihm sympathisch war, oder das Wissen, dass es sich trotzdem um ein absolut poppiges Weltgemüse handelte, sondern vielmehr eine tiefe Überzeugung, dass es so sein musste, dass es richtig war, unumgänglich sogar für ihn. Es war seine Aufgabe. Er musste nirgendwo mehr hingehen. Solange die Kartoffeln bei ihm waren, war er am richtigen Ort.

Es war nicht so, als wäre ihm der Austausch mit Menschen auf einmal unzulänglich erschienen, aber doch war da dieses untrügliche Gefühl, dass er der Kartoffel sehr persönliche Dinge anvertrauen konnte, Gedanken und Gefühle und Überlegungen, die er sonst mit niemandem teilen konnte, ihm war, als verstünde sie ihn auf eine ganz besondere Weise, anders als Menschen, anders als alle anderen Lebensmittel, als sei da etwas zwischen ihnen, zwischen ihrer furchig-fleckigen Schalenhaut und seiner von Sprossen des Sommers gesprenkelten Menschenhaut, das vertieft werden musste, ein unsichtbares Band, eine Verbindung, die niemand würde durchtrennen dürfen.

Selbstverständlich erzählte er niemandem von dieser neu erworbenen Angewohnheit. Er wollte niemanden in das wunderbare Geheimnis einweihen. Sonst würden innert kürzester Zeit ja alle anfangen mit Kartoffeln zu reden, dachte er, würden alle, wenn sie wüssten, wie bereichernd das war, ihm die Kartoffeln vor der Nase wegkaufen, und das wollte er nicht, er wollte der einzige sein, der von diesem Zauber wusste, der ihn nutzte. Manche hatten zwar einigermassen neugierig beobachtet, wie er sich im Supermarkt tief über die grüne Kiste gebeugt hatte, in der die losen Bio-Kartoffeln lagen, und vielleicht hatten sogar einige gehört und gesehen, wie er ihnen leise einen guten Morgen gewünscht und zärtlich seine Finger über die Knollenköpfe hatte wandern lassen. Aber sie hatten sich nichts anmerken lassen, die anderen, hatten ihn vielleicht beim Vorübergehen verwundert angesehen, dann aber weiter Produkte in ihre Einkaufswagen gelegt, mit denen sie zuhause Belanglosigkeiten zubereiten konnten, ohne darauf zu achten, dass er vorsichtig einen Erdapfel aus der Kiste gehoben und ganz nah an seine Lippen und gehalten hatte und ihm zuflüsterte, dass er, ein besonders schönes Exemplar der Gattung Agata, nun mit ihm nach Hause gehen dürfe.

Dass er in den Kartoffeln wunderbare Gesprächspartner gefunden hatte, war wie gesagt kein Grund für Severin, sie nicht zu kochen. Er bereitete mit viel Hingabe raffinierte Aufläufe, währschafte Eintöpfe und rassig gewürzte Pommes Rissolées zu. Natürlich nie ohne während des Zubereitens mit ihnen zu reden. Plaudernd streute er Salz ins kochende Wasser, lachend tunkte er die Kelle. Eifrige Diskussionen hatte er geführt, während er an der Wärmeriegelung des Backofens geschraubt hatte. Durch das Zischen des Öls hindurch Anekdoten seiner Kindheit erzählt. Manchmal gingen ihm die Unterhaltungen so nahe, dass er weinen musste. Das fühlte sich erlösend an.

Es war an einem heissen Dienstagnachmittag, als Severin zum ersten Mal eine Antwort erhielt. Bislang waren seine Kartoffelgespräche stets Monologe gewesen, Monologe mit absolut ausreichender Würdigung, dessen war er sich sicher, aber eben ohne direktes Feedback. An diesem Tag war es anders, es geschah aus heiterem Himmel, es war eigentlich viel zu heiss zum Backen, aber Severin hatte ein Blech mit Kartoffelschnitzen ausgelegt und ein kühles Bier auf dem Esstisch bereitgestellt, als auf einmal eine Stimme zu ihm sprach: «Hallo Severin. Endlich ist es soweit. Der Tag ist gekommen.»

Als er begriff, dass die trockene, leicht blecherne Stimme aus dem Ofen kam, war er zunächst erschrocken und lauschte atemlos, aber als er sich an den Klang gewöhnt hatte, war er so erfreut, dass er beinahe hysterisch losgelacht hätte. Sofort riss er die Ofentür auf. Der Duft von brutzelndem Öl, Thymian und ein unmissverständlicher Befehl drangen ihm entgegen: «Lass uns frei!» Es klang nicht aggressiv, aber doch sehr bestimmt. Severin ahnte, dass er sich womöglich zu früh gefreut hatte. Er wagte jedoch nicht zu widersprechen. Er nickte und zog gehorsam das Blech heraus, obwohl die Kartoffelschnitze auf einer Seite noch halb roh waren.

Als die gelben Knollensplitter an der frischen Luft waren, veränderte sich alles. Nichts war mehr wie vorher. Severin wusste das. Nun war es an der Zeit, irgendwie hatte er es ja geahnt, dass es eines Tages dazu kommen musste, dass jene an die Macht kamen, welche schon lange ein unverkennbares und doch nicht vollständig anerkanntes Heldendasein gefristet hatten. Ihm war trotz allem ein bisschen mulmig zumute. Italienische Kräuter stoben über den Boden. Windhosen aus Salz und Pfeffer wirbelten durch die Küchenschränke und gingen prasselnd auf den bordeauxfarbenen Kachelboden nieder. Teller ruckelten. Tassen zersplitterten ohne ersichtlichen Grund. Das Blech erhob sich. Knisternd flatterte das Backpapier auf Severin zu, doch bevor er nach ihm greifen konnte, ging es in Flammen auf und segelte in verkokelten Fetzen zwischen die Kachelritzen.

«Halt», murmelte Severin, «so geht das nicht.» Aber es war zu spät. Ausserdem hörten sie nicht auf ihn, nicht mehr. Die Kartoffeln waren bereits dabei, die Küche zu verlassen. Aus dem Fenster hüpften sie, aus der Tür rollten sie, die Treppe hinunter, auf die Strasse kullerten und hopsten sie und zogen Duftfäden aus warmer Erde und Gefahr hinter sich her. Severin rannte zum Fenster und sah, dass draussen Autos jäh bremsten, Menschen in Panik ausbrachen. Ein letzter Kartoffelschnitz machte sich auf dem Fensterbrett zum Absprung bereit. Severin liess ihn springen. Mit pochendem Herzen beobachtete er den Aufprall, der dazu führte, dass ein tiefer Riss im Asphalt entstand und sich im Zickzack bis auf die andere Strassenseite erstreckte. Dann explodierte alles in einem gleissenden Licht, Feuerfunken tanzten durch die Luft, undefinierbares Gefunkel tauchte die Strasse in gespenstische Farbtöne. Köpfe rollten über die Gehsteige. Frauengekreisch vermischte sich mit dem Quietschen von Autoreifen, ansonsten schien es still zu sein. Es war grauenvoll. Severin stand am Fenster, konnte sich nicht rühren und sah dem Untergang der Welt, wie sie bis anhin gewesen war, mit gemischten Gefühlen entgegen. Er würde verschont werden, da war er sich sicher, schliesslich war er der Erste gewesen, der die Wendung hatte kommen sehen, war sozusagen ein Prophet, hatte ja von Anfang an verehrt, was verehrt werden musste, sich dieser höheren Macht nicht verwehrt. Aber im nächsten Augenblick war alles um ihn herum schwarz und er stürzte. Wohin, wusste er nicht. Ein lähmender Geruch nach verbranntem Öl drang in seine Nase. Er landete, nicht auf festem Grund, nicht in Flüssigkeit, sondern da, wo er nie hatte sein wollen: ganz unten. Dann blieb ihm die Luft weg.

Laura Wohnlichs Debütroman «Sweet Rotation» erschien 2017 im Piper Verlag. Zurzeit arbeitet sie an ihrem zweiten Buch.


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