Dominik Riedo über passive Zensur in der Schweiz

Auch nach dem Untergang von «No-Billag» bleibt das Thema Medien ein heisses Eisen in der Schweiz. Der Schriftsteller und Essayist Dominik Riedo reflektiert über Zeitungsschwund, die Rolle von Kultur in der Gesellschaft und wie selbst in einem freien Land die Zensurschere eingesetzt werden kann.

Auch die Schweizer Medien wissen, wie Inhalte und Texte gezielt beeinflusst werden können. zVg

Von Dominik Riedo

Zensur in der Schweiz, fragen Sie sich; übertreibt da nicht einer, verglichen mit anderen Ländern? Natürlich tritt die offensichtlichste Gefahr, die man durch das Schreiben oder anderweitige Kundtun seiner expliziten Meinung erleiden kann, in der Schweiz kaum auf: die Gefahr, verfolgt, inhaftiert, gefoltert und sogar ermordet zu werden, wenn Texte, Kunstwerke oder Kunstaktionen der eigenen Regierung (man kann auch andere Regierungen oder Regimes erzürnen, aber dann handelt es sich quasi um Landesgrenzen übergreifende Zensurversuche, was in jedem Staat geschehen kann, man denke an den Fall Salman Rushdie) nicht genehm sind, Tabuthemen aufgreifen oder Kulturschaffende einer kriminellen Vereinigung in die Quere kommen (auch das – und dies spricht wenigstens für mein Land, führt selten zu Körperverletzungen oder Mord). Wir sind es uns hier und in Mitteleuropa generell gewohnt, diese krassen Risiken mit mehr oder minder fernen Regionen und Ländern in Verbindung zu bringen: mit Mittelamerika, Russland, China oder Nordkorea etc. Die jährlich publizierten Ranglisten von Organisationen wie Freedom House oder Reporter ohne Grenzen, in denen punkto Pressefreiheit Länder wie Eritrea, Turkmenistan, Syrien oder der Iran in den letzten Jahren oft die Schlusslichter bilden, bestätigen diesen Eindruck.

Doch man darf sich nicht täuschen: Als Nachwirkung von 9/11 und Amerikas ‹Globalem Krieg gegen den Terrorismus› ist die Pressefreiheit oder Veröffentlichungsfreiheit als Thema wieder stärker in den Blickwinkel gerückt und allgemein muss festgestellt werden, dass Bürgerfreiheiten vermehrt gegen Sicherheitsbedenken ausgespielt oder zumindest gegeneinander abgewogen werden. Diese Grundstimmung sollte man im Hinterkopf behalten, wenn es darum geht, die Fälle von Zensur zu betrachten, die ich weiter unten vorstellen werden. Wie auch die zweite Grundstimmung, die mit der schwindenden Medienvielfalt einhergeht: Seit in der Schweiz viele Zeitungen verschwanden oder mit anderen zusammengeschlossen worden sind, gibt es sowohl eine Zensur des Marktes, sprich: man bringt eher, was sich gut verkaufen dürfte, wie eine gewisse Selbstzensur: Freischaffende Journalisten und Schriftsteller, die noch keinen grossen Namen haben (dann gilt man eher als eine Ausnahme), schreiben für Zeitungen so, dass ihre Artikel bestimmt gedruckt werden, sie lassen also gewisse unbequeme Themen wohl einfach weg. Die dritte Grundstimmung schliesslich ist eine, die ich jahrelang selbst nicht wahrhaben wollte, die aber nichtsdestotrotz in der Bevölkerung tief verankert liegt und sich als eine Art generelle antiliberale Haltung gegen Schriftsteller und andere Kulturschaffende manifestiert hat.

Diese letztere, mit ihr möchte ich beginnen, kann sich negativ wie scheinbar positiv zeigen. Ein negatives Beispiel erlebte ich persönlich, als ich, nachdem meine Partnerin aus der gemeinsamen Wohnung gezogen war, den Vertrag, auf dem ich seit vier Jahren Mitvertragspartner war, abändern lassen wollte auf mich allein. Normalerweise kein Problem, ich hatte es, als ich noch Gymnasiallehrer war, mehrmals getan. Doch dieses Mal versuchte mich die Immobilienfirma, welche die Wohnungen betreut, vor die Tür zu stellen, mit der unbelegten Begründung, ich verdiente gewiss nicht genug. Selbst eingereichte Einkommensnachweise reichten nicht aus, um dagegen anzukommen. Es brauchte Interventionen von Drittstellen, die mich absicherten, damit ich, der vier Jahre lang nie zu spät bezahlt hatte, überhaupt bleiben durfte.

Es ist dies eine erste Form von unterschwelliger Zensur in der Schweiz: Einem Kulturschaffenden wird mit solchen Schikanen oder zu wenig gerechtem Honorar ein Leben möglichst verunmöglicht. Diese Form geht also gewissermassen ad personam: Man inhaftiert, foltert und tötet niemanden, nimmt einem also weder Freiheit noch Leben, was in der Schweiz ja auch verboten ist, sondern zielt auf die Lebensgrundlagen.

Diese Form des Zensurversuchs durch Lebensgrundlagenentziehung – das unbewusste Ziel dabei könnte es sein, dass möglichst alle Schriftsteller einen Nebenberuf haben und damit weniger Zeit, sich dem Schreiben zu widmen – greift übrigens auch bei berühmteren Schriftstellern durchaus: Lukas Bärfuss, den ich 2010 als Präsident des DeutschSchweizer PEN Zentrums ins Literaturhaus Zürich eingeladen hatte, um eine sehr beklatschte Rede zum Writers-in-Prison-Day zu halten, versuchte in der Folge, diese Rede in Zeitungen zu bringen. Dies scheiterte daran, dass keine Zeitung ein Honorar bezahlen wollte, selbst wenn es nur ein symbolisches gewesen wäre und zugunsten den PEN Zentrums. Derselbe Lukas Bärfuss allerdings durfte dann notabene in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über die ‹wahnsinnige Schweiz› («Die Schweiz ist des Wahnsinns») schreiben. Doch dass auch dies gefährlich sein kann, zeigte sich an der Reaktion in Form eines Offenen Briefes an Bärfuss in der Aargauer Zeitung durch Pedro Lenz: «Nur vor etwas will ich Dich warnen, lieber Bärfuss. Ich warne Dich vor der Rache derer, die Du herausforderst.» Und Lenz verbindet mit der Warnung eigentlich ein Geständnis, denn nur wer als Schriftsteller abgesichert sei, könne so etwas tun: «Du bist in dem Sinn privilegiert, dass Du nicht auf einen sicheren Job bei diesem oder jenem Medienhaus angewiesen bist.» – Es ist also offenbar in diesem Land so weit, dass selbst gewisse Arbeitskollegen andere warnen zu müssen glauben, sei es mit den besten Absichten, oder weil sie selber zu denen gehören, die lieber zu wenig sagen als zu viel, weil sie Angst haben, bald zu denen zu gehören, die nichts mehr veröffentlichen können, was Geld einbringt.

Scheinbar positiv kann diese dritte Grundhaltung bei der ersten Art von Zensur zum Tragen kommen, wenn ein Gymnasiallehrer endlich mehr Zeit zum Schreiben möchte und um eine Pensenreduktion ersucht. In einem nun bekannteren Beispiel sollte ihm dies (in zweiter Instanz) gerne gewährt werden, aber nur, wie in meinem Buch «Heidis + Peters» auf Seite 169 nachzulesen ist, wenn das Ganze «zwecks Überbrückung der persönlichen Schwierigkeiten» in den Akten landen durfte. Was nochmals meint: Gegen Schriftsteller und Kulturschaffende gibt es in diesem Land einfach eine Anti-Haltung, die kaum fassbar, aber immer da ist. Als Lehrerkollege sollte diesem erwähnten Menschen also zwar gerne geholfen werden, aber man wäre eigentlich froh, wenn er sich eine andere Art der Therapie suchen würde!

Damit zur eigentlichen Zensur, dem Nicht-Veröffentlichen oder Zensurieren von Texten oder Kunst. Sie wird einerseits durch die zweite Grundstimmung bewirkt, der Angst vor Marktverlust der Zeitungsbesitzer und Zeitungsmacher oder einer freiwilligen Schere im Kopf schon beim Autoren, weil man einen Text unbedingt gedruckt sehen möchte. Dem ersten Teil davon bin ich bereits als 26-Jähriger begegnet, als mein erster längerer Essay über Nietzsche erschien, worin von der Redaktion folgende Stelle gestrichen wurde: «Er hatte den Mut zu seinem Weg; aber auch das Wissen ums Schreckliche, das Wissen der Wenigen: Was liegt am Rest? – Der Rest ist bloss die Menschheit. So ist er verständlich oftmals nur dem, der ihm Verständnis entgegenbringt, was ebenso oft schwerfallen mag.» – Egal, wie pseudopubertär das formuliert sein mochte, begründet wurde der Schnitt damit, dass ein solcher Satz wie der von Nietzsche das «Publikum vor den Kopf stosse». Dasselbe ist mir letzthin wieder passiert, als ich in einem Quartierblatt über die Nutzung von Drohnen durch Privatpersonen schrieb. Mir wurde beschieden, dass ein Satz darin für ein solches Blatt «nicht passend» sei.

Was das heissen kann, muss man sich einmal überlegen: Bald wird in gewissen Zeitungen vielleicht nicht einmal mehr über gewisse Aspekte eines Krieges berichtet, weil man davon ganz einfach nicht mehr lesen will. Vor allem, wenn eine bestimmte Zeitung einem bestimmten, politisch aktiven Besitzer gehört. Oder man berichtet nicht völlig offen, weil man meint, ein Publikum möchte davon nichts lesen. Man will ja seine zahlende Kundschaft nicht ‹vor den Kopf stossen›. Doch solch eine Haltung torpediert die Stärke der Presse und ihr an sich beschworener Wert als wichtiges Instrument zur Gewährleistung einer kritischen Öffentlichkeit und ihre postuliere Unabhängigkeit. Dadurch nimmt nicht nur die Presse- und Meinungsäusserungsfreiheit Schaden, sondern der gesamte Prozess der Meinungsbildung und Entscheidungsfähigkeit. Da wird es der Schweiz bald nur noch wenig nützen, dass wir eine direkte Demokratie sind. Die Anfänge davon kann man ja allenthalben sehen.

All dies führt umgekehrt auch zu einer unangemessenen Macht der Konsumenten: So reichte es vor ein paar Jahren beispielsweise beim staatlichen Fernsehen SRF, um eine Sendung über mein Buch, in dem ich die Pädophilie meines Vaters zum Thema gemacht hatte, einen Tag nach Sendung vom Netz zu entfernen, weil es den Verwandten nicht passte, dass ihr pädophiler Bruder überhaupt erwähnt wurde. Sie hatten keine rechtlichen Schritte eingeleitet, sondern sich nur beklagt, worauf das Fernsehen sofort nachgab.

Die schlimmste Art von Zensur, ebenfalls ein Nicht-Veröffentlichen oder ein Zurückziehen, ist aber jene, die aus der ersten Grundstimmung erwächst: der Angst, sich irgendwie Feinde zu machen oder unlautere Regimes gegen sich aufzubringen. Hier möchte ich drei einschneidende Beispiele anbringen: Das erste ist in der Schweiz allgemein bekannt und hat noch in meinen Jahren als alternativer Kulturminister stets hemmend gewirkt, wenn es galt, künstlerisch etwas zu wagen: Als Thomas Hirschhorn 2004 in Paris eine Ausstellung gestaltete, in der unter anderem Folterbilder aus dem Irak mit den Wappen von Schweizer Kantonen kollagiert wurden, strich die Legislative des Landes der Kulturinstitution Pro Helvetia den Jahresetat um eine Million, weil die Ausstellung der Aussendarstellung der Schweiz schade und – so wurde eben in extremen Positionen begründet – weil dadurch tatsächlich geglaubt werden könne, die Schweiz sei für Folter im Irak mitverantwortlich (ohne dass darüber diskutiert wurde, dass dies ja eine berechtigte Aussage hätte sein können), was Folgen für Schweizerinnen und Schweizer haben könnte. Unter anderem diese Angst also wirkte sich als Zensur aus, weil erstens im nächsten Jahr etliche Projekte aus Finanzgründen gestrichen werden mussten, und zweitens, weil danach lange niemand mehr eine derart deutliche Ausstellung zu machen wagte.

Der zweite Fall betrifft den russischen Schriftsteller Michail Schischkin. Er hatte in der Schweiz jahrelang als Dolmetscher in einem staatlichen Migrationsamt gewirkt, was ihm die finanziellen Grundlagen schuf, seine ersten Romane zu schreiben. Als man merkte, dass er kurz davorstand, seinen Roman «Venushaar» auf Deutsch zu veröffentlichen, in dem Situationen beschrieben werden, die vage mit solchen Gesprächen in Migrationsämtern zu tun haben, versuchte man ihn von offizieller Seite der Schweiz unter Druck zu setzen. Glücklicherweise liess Schischkin sich jedoch nicht einschüchtern, veröffentlichte den Roman so, wie er zuvor schon auf Russisch erschienen war, woraufhin er entlassen wurde. Es ist dies also ein gültiges Beispiel, wo die Zensur nicht funktionierte, aber versucht wurde.

Das letzte Beispiel betraf wieder mich selbst: Ich wurde 2012 als Präsident des DeutschSchweizer Zentrums eingeladen, ein Grusswort für das Programm des Literaturfestivals Leukerbad zu schreiben. Weil ich im Text erwähnt hatte – allerdings ohne ihre Namen zu nennen –, dass in jenem Jahr vier (dem chinesischen Staat genehme) Übersetzer auftreten würden und eben auch ein Dissident, bekam ich kurz vor Drucklegung folgenden Bescheid: «Wir mussten dein Grusswort kurz vor Drucklegung aus dem Programmheft nehmen. Grund dafür ist, dass es für die Übersetzer viel Ärger und Unannehmlichkeiten bedeuten könnte, wenn sie mit Liao Yiwu in einem Text genannt werden.» Wie gesagt, mit Namen genannt wurden diese Übersetzer nicht – und trotzdem wurde das Begleitwort ohne Druck vonseiten Chinas im vorauseilenden Gehorsam ersatzlos gestrichen!

Solche Extrembeispiele zeigen, dass es in einem Land nicht unbedingt eine offiziell gleichgeschaltete Presse oder Festnahmen braucht, wenn oftmals Selbstzensur, vorauseilende Zensur von Entscheidungsträgern oder finanzieller Druck vorliegen. Im Gegenteil: So kann man weiterhin von offizieller Seite behaupten, Zensur gäbe es in der Schweiz nicht, und wenn, dann läge es bestimmt an der miesen Qualität des Gelieferten. Und schiebt damit die ‹Zensurschuld› den Mutigen zu, die damit zu belächelten Opfern werden.

Aber im Ausland darf ich zum Glück deutlich schreiben, was mir auf dem Magen liegt. Das will ich auch weiterhin dankbar tun.

 

 

 


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