François Kohlers «Je ne te voyais pas» – Neue Wege in der restaurativen Justiz

Die restaurative Justiz versucht, Opfer und Täter zusammenzubringen und auf beiden Seiten Heilung zu ermöglichen. In seinem Dokumentarfilm zeigt François Kohler, wie dies funktioniert – aber wohl auch, wo nicht.

Samuel Paty kann seinen Mörder nicht mehr treffen. Viele Opfer leben aber weiter, und ebenso die Täter. François Kohler zeigt in seinem Dokumentarfilm einige von ihnen, in Belgien und in der Schweiz. Im Rahmen der restaurativen Justiz treffen Täter auf ihre Opfer und lernen so, besser zu verstehen, was ihre Taten verursacht haben; lange über den Moment der Tat hinaus, auch weit über das Opfer hinaus.

Was dabei auffällt: viele der Täter sind schlecht integrierte Ausländer, die auch sprachlich mehr schlecht als recht zu Schlag kommen mit der Sprache der Mehrheitsgesellschaft. Auch der Mörder Samuel Patys war schlecht integriert; er ist sogar erst vor Kurzem in Frankreich eingetroffen. Wer Integration und Teilhabe ermöglicht, bekämpft also letztlich nicht zuletzt das Verbrechen.

Wer auf Separation und Ausgrenzung setzt, setzt auch auf Gewalt, eine Gewalt, die oft zurückkommt – auch wenn die meisten Ausgegrenzten natürlich friedlich sind. Die Täter, die der Film präsentiert, sind so aussergewöhnlich wie ihre Opfer, denn die meisten Menschen werden zum Glück nicht Opfer von Gewalt. Letztlich ist es ja immer eine Wechselwirkung von Armut, Gelegenheit und nicht zuletzt auch psychischen Dispositionen, die zusammenwirken.

Opfer oder Täter? Das ist in François Kohlers Film nicht immer klar, auch wenn klar ist, wer hinter Gittern ist und wer nicht… (Bild: zVg)

Wir erfahren darüber zwar wenig oder nichts in Kohlers sehenswertem Film – aber so viel kann der Film auch gar nicht leisten. Vielmehr fokussiert der Film auf einzelne Schicksale, im Zentrum steht dabei das Leiden, das Warum (wie konnte es überhaupt zu diesen Wahnsinnstaten kommen?) wird nicht gross erläutert. Immerhin: einer der Täter – unterdessen rehabilitiert und selber in der sozialen Arbeit tätig – kann einiges darüber sagen, wie es zu seiner Tat kommen konnte. Er ist denn auch (anders als die anderen Täter) ein Einheimischer und kann deshalb den Opfern (sprachlich) auf Augenhöhe begegnen.

Kohlers Film bietet somit einen interessanten Einblick in die bis jetzt doch eher wenig bekannte restaurative Justiz, die mit ihrem Fokus auf die Opfer, auf den Lernprozess auch der Täter, einen wichtigen Beitrag leistet zu einer Gesellschaft, in der die Menschen mehr Rücksicht aufeinander nehmen.

Natürlich ist es unmöglich, sich in jeden anderen Menschen und seine Bedürfnisse einzufühlen, aber wenn ein Gewalttäter sieht, wozu seine Gewalt führen kann, ist schon viel gewonnen. Ziel einer gerechteren Gesellschaft muss es aber sein, die Ausgrenzung der Täter schon vor den Taten zu eliminieren.

Allerdings wird es natürlich immer Menschen geben, die aus verschiedenen Gründen nicht friedlich leben können – wie in John Carpenters Klassiker «Halloween» lässt sich eben auch im wirklichen Leben nicht alles erklären. Und nicht jedes Leiden lässt sich verhindern. Gerade die restaurative Justiz kann aber – als Alternative und Ergänzung zu retributiven (bestrafenden) Justiz einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass es zu weniger Straftaten kommt.

Trotzdem bleibt natürlich ein Unbehagen – die Täter sind ja auch Opfer; vielleicht nicht mal so sehr Opfer der Gesellschaft, sondern Opfer ihrer eigenen Psyche. Und das Leid, das sie verursacht haben, verschwindet natürlich nicht – die Opfer müssen auch weiterleben mit ihren Erinnerungen. Die restaurative Justiz – wie sie Kohlers Film zeigt – kann aber doch ein Weg sein, das Leiden auf allen Seiten zu vermindern.

«Je ne te voyais pas». Schweiz 2019. Regie: François Kohler. Dokumentarfilm. Deutschschweizer Kinostart am 26. November 2020.


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