Kostümierte Melancholie: Clarice Lispector und die Basler Fasnacht
Von Michel Schultheiss
«Und die Larven? Sie jagten mir Angst ein, aber diese Angst war lebensnotwendig, denn sie traf mit meinem tiefen Bedenken zusammen, dass auch das menschliche Gesicht eine Art Larve sei. Sprach mich unten an der Haustür ein Maskierter an, so spürte ich auf einmal die unentbehrliche Verbindung zu meiner inneren Welt, in der nicht nur Kobolde und verzauberte Prinzen lebten, sondern auch Menschen mit ihrem Rätsel. Sogar mein Erschrecken über die Maskierten war für mich also von grundlegender Bedeutung.»
Diese Zeilen aus einer bekannten Basler Kurzgeschichte beschreiben eine Szene am Morgenstreich. Das frühmorgendliche Geschehen in den Gassen wird betrachtet durch die Augen eines achtjährigen Mädchens. Ob Ueli, Harlekin oder Pierrot: So viele lustige wie auch schaurige und traurige Gesichter geistern im Laternenschein durch die Altstadt. Natürlich weiss das Kind, dass es sich hier um Menschen handelt, die einfach nur Fasnachtslarven tragen. So ganz sicher ist sie sich der Sache dann aber doch nicht. Die Larven verunsichern. Sie stellen einen fliessenden Übergang zwischen Realität und Fantasiewelt her. Sie hinterfragen die Gewissheit darüber, was nun eine Larve und was das nun «wahre Gesicht» eines Menschen ist.
Apropos Wahrheit: Was im vorherigen Abschnitt steht, ist natürlich völliger Quatsch. Die Zeilen stammen nicht etwa aus Basel, sondern aus der Feder der brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector (1920-1977). Ihre Kurzgeschichte «Restos do carnaval» («Reste vom Karneval») spielt sich auch nicht am Rhein, sondern in Recife im Nordosten Brasiliens ab. Um die Geschichte «einzubaslern», wurde hier lediglich das Wort «Maske» mit «Larve» ausgewechselt.
Wenn die fasnächtliche Welt zusammenbricht
Lispectors Ich-Erzählerin erinnert sich «Restos do carnaval» an ein verstörendes Erlebnis aus der Kindheit. Angst überschattet den an sich fröhlichen Karneval. Dabei geht es aber nicht nur um unheimliche Larven. Das achtjährige Mädchen hat erstmals die Möglichkeit, sich in ein Kostüm zu werfen, was ihr bis anhin verwehrt geblieben war. Entsprechend gross ist die Vorfreude:
«Als liessen die Straßen und Plätze von Recife endlich erkennen, wozu sie gemacht waren. Als besängen menschliche Stimmen endlich die Fähigkeit zu genießen, die heimlich in mir war. Der Karneval fand für mich statt, für mich.»
Für die Ich-Erzählerin in Lispectors Erzählung hat der Karneval eine weitaus grössere Bedeutung als nur Spass: «So gut wie nichts machte mich zu einem glücklichen Kind», heisst es weiter. Ein Rosenkostüm, das sie dank der Mutter einer Freundin basteln kann, eröffnet ihr neue Welten – und ermöglicht ihr die Flucht aus einer bedrückenden Kindheit.
Nur hängt ein Damoklesschwert über alledem: Die Mutter ist schwerkrank. Ob das Mädchen tatsächlich am Karneval mitmachen kann, steht auf einmal auf Messers Schneide. Somit bricht für das Kind eine Welt zusammen:
«Und wie in den Geschichten, die ich gelesen hatte, in denen Feen Menschen ver- und wieder entzauberten, so war auch ich entzaubert worden; ich war keine Rose mehr, ich war wieder ein Kind.»
Trotz Kostüm entschwindet die magische Welt plötzlich. Sie hat Gewissensbisse, ob sie trotz der kranken Mutter überhaupt in den Karneval eintauchen kann und soll.
Erst der Blick eines zwölfjährigen Jungen vermag es, ihren Karneval zu retten. Plötzlich steht er vor ihr und bewirft ihr Haar zärtlich mit Konfetti.
«Einen Moment lang standen wir uns gegenüber, lächelnd, ohne zu sprechen. Und da fand ich kleine Frau von acht Jahren für den Rest des Abends, dass mich endlich jemand erkannt hatte: Ich war sehr wohl eine Rose.»
Ob Clarice Lispector die Basler Fasnacht gekannt hat, wissen wir nicht. Möglich wäre es zumindest, da die Schriftstellerin als Frau eines Diplomaten während drei Jahren in Bern lebte. Darum geht es hier aber auch gar nicht. Ohnehin ist ihre Referenz hier klar Recife, wo die Tochter einer jüdisch-ukrainischen Einwandererfamilie ihre Kindheit verbrachte.
Mummenschanz und Totentanz
Nun mag die Verbindung zwischen den «drey scheenschte Dääg» und dieser Erzählung vom Karneval in Recife zunächst an den Haaren herbeigezogen erscheinen. Zwischen den beiden Traditionen liegen Welten. Hier die Wurzeln in den militärischen Musterungen der reformierten Zunftstadt, dort der katholische, afrobrasilianische Karneval. Hier die in Winterkleider, Kostüme und Larven verpackten Tambouren und Pfeiferinnen in geordneter Aufstellung, dort leichte Bekleidung und Tanz in der tropischer Hitze zu Rhythmen wie Maracatu und Frevo.
Dennoch bringt Clarice Lispector vieles auf den Punkt, was auch der Basler Fasnacht eingeschrieben ist. Der Karneval aus der Kindheit ihrer Erzählerin wird zwar ersehnt, ist aber nicht nur fröhlich. Schon der Titel der Erzählung «Restos do carnaval» enthält diesen Gegensatz: «Reste» deutet auf Vergängliches hin, «Karneval» auf den glücklichen Augenblick.
Auch die Basler Fasnacht zeichnet sich durch ein Nebeneinander von Mummenschanz und Totentanz aus. Gerade das Bewusstsein der Vergänglichkeit, die Vorfreude auf diese lediglich 72 Stunden im Jahr macht ihren Reiz aus. Dass – wie Lispectors Erzählerin – ein mancher Fasnächtler eine Bürde mit sich trägt, ist zudem immer wieder ein Thema. Es ist kein Zufall, dass es in den Vorfasnachtsveranstaltungen und in Zeitungen immer wieder mal «Hyylgschicht» zu hören und zu lesen gibt. Diese traurigen Fasnachtserzählungen stehen oft mit einem Schicksalsschlag und dem Tod eines geliebten Menschen in Verbindung. Das Melancholische soll also im närrischen Treiben nicht beiseitegeschoben werden, sondern hat seinen festen Platz in der Fasnacht. Schon allein der Moment des Vieruhrschlags am Morgenstreich oder ein einsamer Pfeifer in der dunklen Gasse stehen für Gänsehautstimmung statt für Remmidemmi.
Es gibt noch weitere Aspekte: Die Sujets der Cliquen bieten immer wieder auch Raum für die Verarbeitung von Traurigem wie Krieg und Katastrophen. Zum melancholischen Sujet wurde schliesslich die Fasnacht selbst, als sie aufgrund der Coronapandemie abgesagt wurde. Der Morgenstreich verwandelte sich damals in einen stillen Trauerzug. Ein Jahr später zierten maskierte und kostümierte Puppen ein Tram und die Brasserie des Hotel Basel. Es blieb nur eine erstarrte Fasnacht, ein Schatten ihrer selbst oder Larven, die sich für einmal geisterhaft selbstständig machten.
Auch in den Vorgängern der heutigen Basler Fasnacht war die dunkle Seite stets präsent. Die Basler Volkskundlerin Edith Schweizer-Völker verweist etwa auf die Maskenbräuche in verschiedenen Kulturen, die im Zusammenhang mit dem Tod stehen. So auch die Figur des Harlekins, der über die italienische Commedia dell’arte seinen Weg nach Basel fand, wohl aber seine Wurzeln in einem nördlichen Totenkult hat.
Die dunkle Seite des Narrs
Auch der Narr, hier in der Form des Ueli präsent, ist nicht nur eine lustige Figur. Wie die Historikerin Katja Zimmer in einem Buch über die mittelalterlichen Wurzeln der Fasnacht schreibt, war die Narrenfigur bereits vor der Reformation in Basel bekannt. Der Tod wurde oft im Narrenkostüm gezeigt. Er stand im Spätmittelalter für die Erbsünde, sprich: Durch die Narrheit des Menschen kam der Tod in die Welt.
Nebst der historischen und volkskundlichen Deutung der Fasnachtsfiguren gibt es auch eine psychologische. Ein alter Dokumentarfilm über Carl Gustav Jung legt die Vermutung nahe, dass der berühmte Psychiater während seiner Studienzeit in Basel von der Fasnacht inspiriert wurde. Der Brauch erlaubt es, dass mit dem Waggis & Co. etwas uraltes Unterbewusstes im Menschen hervortritt und die Maske des Alltags abgelegt wird.
Und damit wären wir wieder beim achtjährigen Mädchen von Clarice Lispector und ihrem Blick auf die Masken. Wie bei C. G. Jung stehen auch hier die Larven für das von der Erwachsenenwelt Verdrängte. Zugleich erfahren wir durch ihre Erzählung, wie ein Kind vor und während der Fasnacht die Welt wahrnimmt. Die Larve, das Kostüm – alles hat eine viel grössere Bedeutung als bloss eine Verkleidung. Dadurch wird die Grenze zwischen Realität und Fantasie eingeebnet. Es ist möglich, jemand anders zu sein.
Die bittere Realität, die Einsamkeit und der Schmerz über das Schicksal der liebsten Menschen – all das bleibt. Aber auch das hat an der Fasnacht seinen Platz. Das Melancholische ist kein Fremdkörper, es gehört zur Fasnacht. So ist vielleicht das Laternenmeer am Morgenstreich wie der zwölfjährige Junge mit dem Konfetti in Lispectors Erzählung. Die Fasnacht als kollektives Kunstwerk, bei dem unter der Larve alle gleich sind, steht dann plötzlich vor dir und erkennt dich als diejenige Figur, die du sein willst.
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