Zehn Jahre Munchkin: Die Evolution einer Parodie
Von Daniel Lüthi
Die deutsche Ausgabe des Kultkartenspiels «Munchkin» wird zehn Jahre alt. «Zeitnah: Kulturmagazin seit 2012» versucht, die Hintergründe und Entwicklung des Klassikers zu beleuchten.
Es gibt Spiele, die so anarchisch sind, dass eine Beschreibung der Regeln oder des Spielablaufs wenig Sinn macht. Den besten Ersteindruck von «Munchkin» bekommt man vielmehr durch die Gespräche, welche sich während des Spiels zwischen den Spielern entwickeln:
Spieler 1: «Also gut, ich setze meinen Doppelgänger ein und schlage den Bekifften Golem damit.»
Spieler 2: «Moment! Ich spiele Wanderndes Monster, jetzt musst du auch noch den Versicherungsvertreter bekämpfen.»
Spieler 3: «Ich könnte beim Kampf helfen, wenn du mir vier Schätze überlässt.»
Spieler 1: «Vier!?»
Spieler 3: «Oder sagen wir: drei Schätze und deine Kettensäge der blutigen Zerstückelung.»
Spieler 4: «Ich spiele noch Geschlechtsumwandlung, Spieler 1. Du bist jetzt eine Frau.»
So gestaltet sich der Dialog unter Spielern während einer normalen Partie «Munchkin». Bündnisse werden geschlossen und bald wieder gebrochen, in letzter Sekunde fällt man dem Mitspieler in den Rücken, um die eigene Figur weiter aufzurüsten. «Munchkin» ist purer Egoismus und macht gerade deshalb eine diebische Freude.
Geldmacherei versus Spielspass
Das amerikanische Originalspiel «Munchkin» erschien 2001 bei Steve Jackson Games, inspiriert von dem satirischen Buch «The Munchkin’s Guide to Powergaming». Vermarktet als Rollenspiel «…ohne das nervige Rollenspiel», spaltete «Munchkin» bereits in der ersten Ausgabe die Spielergemeinde. Vielen war es zu hektisch und wirkte wie schnelle Geldmacherei. Durch den kruden Humor, der Rollenspielklischees mit Gegenständen wie «Boots of Butt-Kicking» oder «Potion of Idiotic Bravery» parodierte, schien «Munchkin» mehr ein fortgesetzter Witz als ein richtiges Spiel zu sein.
Trotzdem wurde «Munchkin» ein Erfolg und setzte den Anfang für eine Spielefamilie, die bis heute weiter Zuwachs erhält. 2003 veröffentlichte Pegasus Spiele die deutsche Version, und auch in Europa brach das Munchkin-Fieber los. Nicht zuletzt wegen der gelungenen Übersetzung und der speziell für den deutschsprachigen Markt angepassten Karten wurde das Spiel zum Renner. Die ersten Erweiterungen liessen nicht lange auf sich warten. Neben diesen Zusatzkarten zum Originalspiel entstanden zusätzlich Ableger, welche andere Sparten der Popkultur parodierten: «Munchkin beisst!» (Vampire), «Munchkin Freibeuter» (Piraten), «Star Munchkin» (Science Fiction) … zehn Jahre später gibt es acht grosse Erweiterungen zum Grundspiel (kleinere nicht mit eingerechnet) sowie dreizehn selbstständige Spiele – alle mit eigenen Erweiterungen, versteht sich.
Eine grosse, verrückte Familie
Natürlich verhärteten so viele Ableger und Fortsetzungen (mittlerweile beläuft sich «Munchkin» auf insgesamt über 4000 Karten) die Fronten zwischen Liebhabern und Hassern. Was den Letzteren ein zusätzlicher Beweis dafür war, dass es dem Verlag bei dem Spiel darum geht, schnelles Geld mit lieblosen Erweiterungen zu machen, entpuppte sich für Fans langfristig als ultimativer Gewinn: Alle «Munchkin»-Spiele sind nämlich miteinander kombinierbar.
Diese Kombinatorik ist vielleicht die verrückteste Eigenschaft der «Munchkin»-Familie. Waren es zu Beginn bloss Vampire und Roboter, die sich auf einmal im Grundspiel tummelten, haben sich die Möglichkeiten im Laufe der Jahre erheblich erweitert: Ninjas, Superhelden, Geheimagenten, Zombies, Cowboys … sogar Minierweiterungen zu Weihnachten und Ostern lassen sich ins Spiel einfügen. Wie eine postmoderne Collage setzt sich «Munchkin» aus einer Vielzahl an Komponenten zusammen, die man beliebig variieren und rekombinieren kann. Es erinnert hierin auch an das Spiel des Jahres 2009, «Dominion» – mit dem Unterschied, dass «Munchkin» weitaus anarchischer und noch glücksabhängiger ist.
Das Nichtrollenspiel als Rollenspiel
Obwohl «Munchkin» im Prinzip als das ultimative Anti-Rollenspiel gilt, sind mittlerweile auf der Welle des Erfolgs sogar ein richtiges «Munchkin»-Rollenspiel sowie ein «Munchkin»-Brettspiel erschienen. Damit schliesst sich der Kreis zwischen Parodie und Ernsthaftigkeit zwar nicht völlig (denn beide Spiele bieten denselben bissigen Humor und entschlackten Spielablauf), aber «Munchkin» ist von einem kleinen Kartenspiel zu einer eigenständigen Franchise gewachsen. Je nach Kombination ist eine Partie da durchaus lang genug, um einen ganzen Spieleabend zu füllen.
Am Ende bleibt die Frage, ob «Munchkin» nun wirklich Spiel oder bloss bunte Geldmacherei ist, offen. Es gibt Spielerkreise, in denen «Munchkin» nahezu verboten ist, in anderen stapeln sich die Erweiterungen nur so. Zweifellos ist «Munchkin» eines der erfolgreichsten Kartenspiele der letzten zehn Jahre und reflektiert die diversen Genres und Subgenres der Popkultur vielleicht nicht so kritisch, dafür aber umso amüsanter. Für den Anfang empfiehlt sich das Grundspiel, das man beliebig aufstocken und ausbauen kann – und die nächste Erweiterung kommt bestimmt.
Zum Jubiläum ist bei Pegasus Spiele das Grundspiel inklusive erster Erweiterung erhältlich.
«Munchkin» von Steve Jackson Games
Erschienen am 15.06.2013 bei Pegasus Spiele
Für zwei (besser drei) bis sechs Spieler ab zwölf Jahren
Spieldauer ca. sechzig Minuten
ca. CHF 29.-
EAN: 4250231704796
- Tareks Reise nach Jerusalem – Annemarie Jacirs «When I Saw You»
- Macht und Ohnmacht von Musik und Literatur – «VARIATIONS» 20/12