Friss Vogel, oder stirb – Michel Houellebecqs «Unterwerfung»
Michel Houellebecqs «Unterwerfung» unter der Lupe.
Von Gregor Szyndler
«Unterwerfung» ist ein kurzes, süffiges Buch. Es beginnt besser als es endet, und in ein, zwei Vollbädern hat man es durchgelesen ohne vollends zu verschrumpeln. Das liegt nicht nur an der Schreibe Houellebecqs, sondern auch an der Handlichkeit des Werks. Das Buch spielt im Jahr 2022. Frankreich steht am Rand des Bürgerkriegs. Extremisten nationalistischer und islamistischer Couleur hauen sich die Köpfe ein, geheime Dienste und der tiefe Staat geben sich die Ehre. Es gibt Sprengstoffanschläge von allen Seiten, deren Urheber nicht gefasst werden. Die Behörden verordnen Nachrichtensperren. Der Front National marschiert. Die Gesellschaft ist gelähmt. Mohammed Ben Abbes, ein charismatischer Politiker der Bruderschaft der Muslime, hat gute Aussichten, gegen Marine Le Pen die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen.
Der Protagonist, François, ist Dozent für Literatur, und er spürt sich nicht mehr. Die Formulierung umreisst den glühenden Kern des Buches. Darum geht es: Sich nicht mehr spüren, nur das Sichnichtmehrspüren noch spüren, und dann die bange Frage – soll man resignieren oder nicht. François bumst sich semesterweise durch seine Studentinnen, weil er sich dann manchmal noch spürt. Er geht wegen Pilzen zum Arzt, säuft und frisst und schliesst so etwas wie Freundschaft mit Geheimdienstfuzzis und Umstürzlern. Er ist ein echter décadent, und damit kein Zweifel daran bleibt, macht Houellebecq ihn auch gleich noch zum Experten für die Literatur der décadence. Besonders angetan hat es ihm der Dichter Huysmans, über den er dissertierte, und dessen Vita nicht nur François‘ Exzesse, sondern auch den möglichen Ausgang daraus vorwegnimmt. Als homme de lettres weiss François um seine Selbstwidersprüche, und so verschlägt es ihn an Lesungen mystisierender Literatur. Doch, ach,
«nach einer halben Stunde stand ich, endgültig vom Geist verlassen und auf meinen lädierten, vergänglichen Körper geschränkt, wieder auf und ging traurig die Stufen in Richtung Parkplatz hinunter».
Literatur also stiftet auch nicht die erhoffte Enheit von Geist und Körper. Selten wird François‘ Zerrissenheit so deutlich: Wie bringt man das Wissen von der Imarschheit der Welt in Einklang mit dem Bedürfnis nach Entspannen, Sichspüren, Vergessen? Was muss François tun, um zugleich zynisch bleiben und doch wieder genussfähig werden zu können? Welche Arten der Riss-Kittung gibt es? Sex? Literatur? Trinken? Essen? Ist da noch etwas? Ist da noch mehr? François kommt sich selbst abhanden. Es ist der klassische Topos des Entwicklungsromans: die Unfähigkeit des Einzelnen, sich zugleich als Einzelner und als Teil eines grösseren Ganzen zu fühlen und entsprechend zu leben. François schleppt sich durchs Leben, und er tänzelt fast bewusstlos um den Riss, der in ihm klafft.
Komisch, nicht verächtlich
Zwischen Quickies, Besäufnissen und Diskussionen zum Zeitgeschehen ereignet sich der Aufstieg der Bruderschaft der Muslime zur Präsidentschaft. Ben Abbes will das römische Reich als Verbund aller Mittelmeerstaaten innerhalb einer französisch dominierten EU neu errichten. Das ist als Folie reizvoll, die Vorstellung einer unter französischer Dominanz stehenden EU ist komisch genug. Das römische Reich beruhte auf dem Prinzip: «Mit uns, oder gegen uns» – «Friss Vogel, oder stirb». Ein Schuft, wer dieses Denkmuster hüben wie drüben auch in der Gegenwart findet. Sehr skandalös ist die Anlage des Romans nicht. Allenfalls arg kulturpessimistisch. In der öffentlichen Wahrnehmung des neuen Houellebecqs liegt mehr Skandal als im Werk an sich. Ein Autor braucht Polizeischutz, weil er schrieb, was er schrieb. Der Skandal ist die Mundtotmachung des Autors, die Beschneidung seiner Grundrechte. Was von dem Skandal im Literarischen bleibt, also nach der Lektüre von «Unterwerfung» und nach dem Antritt der neuen «Charlie Hebdo»-Generation bleibt, ist eine andere Frage.
Was soll die Aufregung? Wo ist der Skandal? OK, ein paar Escort-Damen haben arabische Namen. Dann ist da noch das Szenario eines politischen Islam, der mit viel Ölstaatenkohle in Frankreich an die Macht kommt. Mohammed Ben Abbes zeigt der Roman als grossen Abwesenden, zugleich Omnipräsenten, kürzer – als souveränen, staatsmännischen, visionär-unnahbaren Taktiker und Strippenzieher. Nichts liegt «Unterwerfung» ferner, als sich über ihn zu mokieren oder ihn zu dämonisieren. Stattdessen erscheint er als engagierter Europäer muslimischen Glaubens, der das EU-Parlament nach Griechenland und das Zentrum der EU nach Rom verlegen will. Das ist komisch, aber nicht verächtlich, und es wird auch nicht etwa gebraucht, um Ben Abbes zu verlachen oder als idealistischen Träumer blosszustellen.
Erzürnen könnte gewisse Kreise seine realpolitische Unaufgeregtheit und Diplomatie. Mohammed Ben Abbes geht auf Distanz zu den militanten Islamisten. Er versteht es, Frankreich zu befriedigen: so lässt er das Puffwesen unangetastet, kloppt die Homo-Ehe in die Tonne und distanziert sich von seinen Geldgebern in den Golfstaaten. Dass er als erste Amtshandlung die Bildungsetats zusammenstreicht, um mit den freiwerdenden Mitteln klassische Familienformen zu fördern, dürfte in den Kreisen, die sich so gerne über ungelesene Bücher empören oder sich, genau so empört, von dieser Empörung distanzieren, kaum zu tumultartigen Unruhen führen. Was denn dann? Etwa die zynische Trockenheit, mit der Hoellebecq eine erstaunliche grosse französische Regierungskoalition skizziert? Was soll verachtenswert sein am literarischen Denken eines Szenarios, in dem der politische Islam durch die Institutionen marschiert? Zumal jede Regierung nach fünf Jahren abgewählt werden kann? Geht uns das was an in der Schweiz? Hier, wo das Denken an einen Bundesrat oder einen SBB-CEO Hussaini oder an ein weiteres Minarett cüplixenophob-verfassungsfatalistisch ins Land der Träume geschulterzuckt wird?
Kulturpessimismus, kritisiert
Houellebecq schrieb sein Buch allzu sehr auf Punkt und Talkshow. Er begnügt sich mit der Ausschilderung eines Szenarios, mit dessen Vertiefung er sich nicht aufhält. Das Buch ist ein Diskussionsbeitrag, nicht so sehr ein literarisches Werk eigener Geltung: geradlinig, geheimnisleer, berechenbar, jammerig und doch auch auf satirische Weise zuversichtlich. Komisch, ja, auch, und humoristisch, selbstironisch:
«Die Erinnerung an manch sexuelle Praktiken war mithin innerhalb eines Jahrhunderts aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden – so wie bestimmte handwerkliche Techniken verschwinden, etwa diejenigen der Holzschuhmacher oder der Glöckner. Was hätte als dafür sprechen können, der Idee vom Niedergang Europas nicht zuzustimmen?»
Da kann man jetzt natürlich gekonnt aufheulen und Houellebecq vorwerfen, was sich ihm gegenüber an Vorwürfen eingebürgert hat. Gerade so gut kann man es auch lesen als brüllend komische Kritik des (nicht nur François eigenen) Kulturpessimismus. Houellebecq entwirft eine routiniert durchdeklinierte, bestens in einem Kammerspiel mit pseudodokumentarischen Einsprengseln verfilmbare Welt.
François‘ Bekehrung erfolgt nicht mit Gewalt, sondern mit Intelligenz. François‘ nicht durchdachter Atheismus ist die Angriffsfläche, die der grosse Bekehrer nutzt, um ihn «zu knacken». Der Bekehrer ist übrigens, saukomisch auch das, ein selbst bekehrter Belgier.
«Wie lange müsste ein Schimpanse zufällig auf einer Schreibmaschine herumtippen, um die Werke William Shakespeares entstehen zu lassen? Wie lange würde ein blinder Zufall benötigen, um das Universum wieder entstehen zu lassen?»
Auf diese reichlich naheliegende Frage weiss François keine Antwort. Er, der unter der Kluft zwischen sich selbst und sich selbst, zwischen seinem Geist und seinem Körper, seinem Intellekt und seinen Gefühlen, litt, fühlt sich reif, sich einer neuen Ordnung zu unterwerfen, das Disparate nahezuführen. Das ist klassisches Bekehrungskino, nur dass halt das Bekehrungserlebnis für einmal den Islam beinhaltet und nicht irgendwelche sonstigen Kirchen oder Sekten, Markenprodukte, Marktwirtschaften, Parteien oder sonstwas. Das philosophische Gespräch zwischen François und seinem Bekehrer entschädigt für die eine und andere schnörkellose Geradlinigkeit, von denen «Unterwerfung» nun wirklich genug hat.
Dschihadisten und Diskursgotteskrieger
Man muss in «Unterwerfung» Aufhänger für die Wut des Mob oder für das Aufheulen der Wölfe mit der Lupe suchen. Man könnte fündig werden bei den Muslima-Escort-Service-Szenen. Oder bei der Polygamie, die in der beschriebenen Form nach unserem Rechtsverständnis Pädophilie heisst und zu lebenslangem Berufsverbot führt. Es sind dies die Passagen, an denen «Unterwerfung» einer mittelmässigen oder schlechten Karikatur ähnelt. Anlass zu Drohungen gegen Houellebecq geben könnte den lichtscheuen Strippenziehern mediengeiler Islamisten auch die Figur Mohammed Ben Abbes. Wie realpolitisch und pragmatisch er sich die Schwächen seiner Gegner zunutze macht, den Front National gegen die Linke ausspielt, die Mitte plättet und die Dschihadisten marginalisiert, wie er sich nach seinem Sieg den Unterlegenen gegenüber verhält, spottet der mörderischen Logik jener Kreise, die in automatischen Waffen oder reflexhafter Pauschalisierung die Lösung jedes noch so einfachen oder komplexen Problems sehen: Wo sind denn die unüberwindbaren Gräben zwischen den verfeindeten politischen Lagern, wenn die Stunde einer neuen, offen auf alle zugehenden Regierung schlägt? Es ist das Alptraumszenario jedes Dschihadisten oder Diskursgotteskriegers: ein politischer Islam, erfolgreich in der Heimat der ehemaligen Unterdrücker – nicht durch Gewalt, sondern durch Intelligenz und kluge Beachtung der Spielregeln sowie unter Auslebung einer zutiefst auch europäischen, demokratischen Identität. «Unterwerfung» ist ein anregendes Buch, wert, vertieft und differenziert bedacht zu werden.
Michel Houellebecq
Unterwerfung
Roman
272 Seiten, Hardcover
Dumont-Verlag
CHF 32.90
ISBN 978-3-8321-9795-7
- «Jemand» – Novellen von Gregor Szyndler
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