Nicht nur Bruce und Sheila, mehr als Barbie und Ken – Levan Akins «Crossing»
Die Georgierin Lia sucht zusammen mit dem Nachbarsjungen Achi ihre Nichte Tekla, die in die nahe gelegene Türkei ausgewandert ist.
Lia sucht zusammen mit ihrem jungen Nachbarn Achi in der Türkei nach Tekla, ihrer Nichte. Tekla hat ihre Heimat Georgien verlassen – als Transfrau war das Leben dort zu hart; der Druck nicht zuletzt aus der eigenen Familie war zu gross … In der Türkei hilft ihnen die juristisch versierte Transfrau Evrim auf der Suche nach der lange verschollenen verwandten Person.
Es kommt selten vor, dass ein Film mit einem linguistischen Hinweis anfängt: «Both Georgian and Turkish are gender-neutral languages; they make no distinctions of grammatical gender.» [1] Und vielleicht gibt es keinen besseren Beweis für die These von Sapir-Whorf: nach dieser prägt eben die Sprache das Denken massgeblich. Und wer würde schon verneinen wollen, dass die Sprache uns in Vielem prägt? Und weil es eben verschiedene Sprachen gibt, Sprachen, die sich nicht nur lexikalisch, sondern auch auf allen anderen Ebenen massgeblich unterscheiden, muss diese Prägung je nach Sprache auch sehr unterschiedlich sein. In «Crossing» geht es um die Suche nach einer Transfrau; und in den Originalsprachen des Films ist es also nie ersichtlich, ob die Menschen darin über eine «sie», einen «er» oder ein:e «they»oder «iel» reden. So beginnt der Film, so soll ich aus diese Kritik beginnen.
In «Crossing» sucht also Lia nach dem Tod ihrer Schwester zusammen mit Achi eine Verwandte, oder eben einen Verwandte:n, oder … Dass viele Menschen nicht wahrhaben wollen, dass nicht alle Menschen in das Barbie-Ken-Schema passen, ist nicht verwunderlich. Lia hat aber gemerkt, dass sie Tekla wieder finden muss, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Solche oder ähnliche Reflexion müssen im Grunde genommen alle Menschen betreiben, die nicht akzeptieren wollen, dass die Welt eben nicht nur aus Bruce und Sheila besteht, sondern aus ganz verschiedenen Menschen, auch non-binären Menschen.
Levan Akin, der schwedisch-georgische Regisseur «And Then We Danced», kehrt wieder zurück nach Georgien, mit einem weiteren Film zu einem queeren Thema, ebenso einfühlsam wie sein letzter Film. Absolut sehenswert – nicht nur wegen der linguistischen Information am Anfang! Besonders schön eine Szene, in der Lia und Achi auf einer Hochzeit mittanzen dürfen – auf einer fremden Hochzeit, versteht sich. Die Musik, die in Levan Akis so oder so eine wichtige Rolle spielt, ertönt live, Lia und Achi vergessen sich im Tanz. Ihre Teilnahme an dieser Hochzeit als Gäste ist vielleicht auch zu verstehen als Plädoyer für mehr Toleranz.
«Crossing». Schweden/Dänemark/Frankreich/Türkei/Georgien 2024 2024. Regie: Levan Akin. Mit Mzia Arabuli, Deniz Dumanli, Lucas Kankava, Nino Karchava, Taka Kurdovanidze u. a. Deutschschweizer Kinostart am 12. September 2024.
[1] Linguistisch gesehen wäre es korrekter, von «genderless languages» zu reden; siehe hier: https://en.wikipedia.org/wiki/Genderless_language– also von Sprachen, die kein grammatisches Geschlecht haben. Der Diskurs um «gender-neutral languages» bezieht sich eigentlich gerade auf Sprachen, die das grammatische Geschlecht (noch) haben, wie etwa das Englische, Französische, Deutsche oder Schwedische, wo u. a. mit Neologismen und Fremdwörtern versucht wird, die Sprache neu zu gestalten.
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