Ludwig Feuerbach und die Schweiz: eine europäische Skizze – von Dominik Riedo
Die Schweiz liegt in Europa. Europa liegt in der Schweiz. Dominik Riedos lesenswerter Essay über Ludwig Feuerbach und das napoleonische Versuchslabor.
von Dominik Riedo
«Und euch, ihr spekulativen Theologen und Philosophen, rate ich: macht euch frei von den Begriffen und Vorurteilen der bisherigen spekulativen Philosophie, wenn ihr anders zu den Dingen, wie sie sind, d. h. zur Wahrheit kommen wollt. Und es gibt keinen anderen Weg für euch zur Wahrheit und Freiheit, als durch den Feuer-Bach. Der Feuerbach ist das Purgatorium der Gegenwart.»
Es ist eine der berühmt-berüchtigtsten Selbst-Aussagen des Philosophen Ludwig Feuerbach (1804–1872). Im Druck erschienen 1843 in der Schweiz. – Was uns mitten ins Thema reisst.
Aber «Ludwig Feuerbach und die Schweiz»: Demnach ist bei grossen Persönlichkeiten nichts zu klein, von Interesse zu sein? Tatsächlich spielt das Ländchen, dessen Bewohner heutzutage ihren nördlichen Nachbarn in bewusster Verkennung der Tatsachen ab und an als «grossen Kanton» bezeichnen, bei Feuerbach nicht eine so weitreichende Rolle wie zum Beispiel bei Richard Wagner. Obwohl es einige Verbindungslinien aus der und in die Schweiz gäbe, die man alle ausführlicher nachzeichnen könnte:
Mit sechzehn Jahren etwa rät der junge Ludwig seiner Mutter altklug, sie solle seine Schwestern im patriotisch-naturschwärmerisch seichten «Erbauungsbuch» «Stunden der Andacht» (von 1816) des Schweizers Heinrich Zschokke lesen lassen; später wird der Philosoph unter anderem von den Schriften des Genfers Jean-Jacques Rousseaus beeinflusst. Umgekehrt lesen als zwei Beispiele für viele sowohl Nietzsche in der Schweiz als auch der Schweizer Friedrich Dürrenmatt die religionskritischen Schriften des Deutschen, was sich im Werk beider niederschlägt. Selbst reichlich delikate Sachen gäbe es da: Johanna Kapp, die Ludwig Feuerbach liebte und von ihm geliebt wurde, auf die er aber zugunsten seiner Ehefrau 1846 «verzichtete», wird ihm ein Leben lang gewissermassen treu bleiben und sich dafür ein privates Liebesglück versagen, selbst als Gottfried Keller Ende der 1840er-Jahre um sie wirbt. Und nicht zuletzt liegen in verschiedenen Archiven der Schweiz einige Originalhandschriften des Philosophen.
Die wichtigste Verbindung Feuerbachs mit der Schweiz allerdings dürfte eine andere sein, die übrigens auch sonst für die Geistesgeschichte beider Länder – Deutschlands und der Schweiz – nicht unterschätzt werden sollte. Denn zwar ist der Dadaismus bisher die einzige deutschsprachige Literaturbewegung, die in der Schweiz ihren Anfang genommen hat – was zur Grösse des Landes insofern passt, als diese Bewegung in ihrer originären Form kaum ein gutes Jahr dauerte; doch eine andere Epoche, in der das Land eine tragende Rolle spielte, ist literatur- beziehungsweise kulturgeschichtlich wohl weit bedeutender gewesen: Die Zeit des Vormärz und ihre unmittelbar darauffolgenden Jahre (manchmal auch als «Nachmärz» bezeichnet), also die Zeit vom Wiener Kongress 1815 bis zu den Revolutionen 1848/1849 beziehungsweise der Umwandlung der Schweiz in den modernen Bundestaat 1848 und zusätzlich die Zeit bis zur Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871. Noch genauer könnte man die entscheidenden Jahre in der Schweiz eingrenzen von der Gründung der Universität Zürich 1833, der ersten Universität Europas, die nicht einem Fürsten oder der Kirche zu verdanken war, sondern einem Volksentscheid, bis hin in die 1860er-Jahre, als die meisten deutschen Immigranten des Vormärz nach Deutschland zurückkehren konnten (in der Beziehung zu Feuerbach nicht unwichtig: Die ‹eiserne Lerche› Georg Herwegh konnte 1866 wieder deutschen Boden betreten).
Es war eine Epoche, eine wirblige Zeit, in der in Europa eine gewisse Atmosphäre sich immer hartnäckiger ausbildete: eine Atmosphäre der Änderungen, des Übergangs. Schon Jahrzehnte vor 1848 wehte der oft auch saure Hauch des Neuen, gewissermassen das über die napoleonischen Schlachtfelder ziehende Aroma der vergangenen Französischen Revolution immer stärker. Es war, als ob die Tatsache all der Leichenberge endlich doch über die Nasen in die Hirne der Studenten und jungen Professoren stieg und im Denken etwas bewegte, das 1815 auf dem Wiener Kongress noch unterdrückt worden war: Die Idee eines Europa, das sich nicht mehr nur Fürsten und Provinzkönigen beugte, ein vereinigtes Europa der geschundenen Mehrheiten gegen die Restaurationsbestrebungen der in der «Heiligen Allianz» verbündeten, alteingesessenen Herrscherhäuser.
In Deutschland zeichneten sich bereits 1817 auf dem «Wartburgfest» die kommenden Ereignisse ab, und 1819 ermordete der radikaldemokratische und nationalistische (nationalistisch im Sinne von: gegen die kleinstaatlichen Familienherrschaftereien) Burschenschaftler Karl Ludwig Sand den Schriftsteller und russischen Generalkonsul August Friedrich Ferdinand von Kotzebue. Während die Repressionen daraufhin einerseits mit den ‹Karlsbader Beschlüssen› einen neuen Höhepunkt erreichten, gab die französische Julirevolution 1830 den liberalen Kräften in Deutschland (und der Schweiz) andererseits neuen Auftrieb. Der «Frankfurter Wachensturm» am 3. April 1833 bildete dann bereits einen ersten Versuch von etwa fünfzig Studenten, eine gesamtdeutsche Revolution auszulösen.
Innenpolitisch wurden in Deutschland die Forderungen nach liberalen Reformen oder nach nationaler Einigung daher zunehmend stärker unterdrückt, Zensurmassnahmen verschärft und die Pressefreiheit stark eingeschränkt. Die Werke des literarischen jungen Deutschland (Heinrich Heine als bekanntester Vertreter), einer Gruppe junger revolutionär eingestellter Schriftsteller, zensiert oder verboten. Auch andere gesellschaftskritische oder nationalistische Dichter und Denker waren von der Zensur betroffen, so dass sie teilweise ins Exil – vor allem nach Frankreich oder eben in die Schweiz – ausweichen mussten.
Wenn also auch der Name «Vormärz» wie gesagt etwas anderes meint, so waren es für die Schweiz doch äusserst fruchtbare Jahre: Da trieb etwas von aussen Kommendes Sprossen; alles trug die Zeichen des Frühlings, die Zeichen des Anfangs und Ursprungs, von etwas Unverbrauchtem. Georg Büchner flüchtete 1836 nach Zürich, weil er dort an der neu gegründeten Universität eine Stelle als Privatdozent erhielt, wie überhaupt fast alle frühen Dozenten an der jungen Universität geflüchtete Emigranten aus dem spitzelversuchten Deutschland waren. Zusätzlich machte sich unter anderem Georg Herwegh 1839 vor der drohenden Zwangsrekrutierung davon in die Schweiz:
«O Freiheit, Freiheit. Du fliehest das Geräusch der Marmorhallen, wo trunkne Schlemmer sich im Weine baden.»
Ferdinand Freiligrath verzichtete fünf Jahre später auf eine Anstellung im alten, allzu klassischen Weimar, und zog ebenfalls an den Zürichsee. Ihm schloss sich Michail Bakunin an, heute geradezu die Personifikation des Anrennens gegen alles Überkommene.
So kam die Schweiz, zu jener Zeit eigentlich noch ein loser und politisch arg heterogener Staatenbund, zu einer Ansammlung von Geistesgrössen, die nicht wenig dazu beitrug, dass das, was seit Napoleon auf diesem Staatengebiet passierte, weiterging. Denn die Umwandlung der Schweiz in einen liberalen Bundestaat war nicht nur ein indirektes Ereignis der bürgerlich-demokratischen Bestrebungen in ganz Mitteleuropa, sondern gerade in Zürich wurde die Regierung immer auch unter dem Einfluss der Immigranten und deren Ideen zunehmend liberaler, was dann 1847 zum «Sonderbundskrieg» führte, der wiederum mit dem Sieg der Liberalen (reformierten Kantone) über die erzkonservativen Katholiken (vor allem Luzerns) den Weg frei machte zum Bundestaat mit Bundesverfassung.
Die Schweiz, im 19. Jahrhundert seit Napoleon eine Art politisches «Versuchsgebiet» (was auch auf dem Wiener Kongress so gesehen wurde), erhielt damit eine europäische Vorreiterrolle, von der sie bis heute zehrt, zu der sie aber zumindest für die katholischen und ländlichen Gebiete kam wie die jungfräuliche Helvetia zum ungewollten Kinde. Aber durch den vor 1848 herrschenden Geist des langsamen Aufbruchs in den liberalen Städten (Richard Wagner in Luzern wäre vor der erzwungenen Änderung durch die Bundesverfassung noch nicht möglich gewesen; so wurde zum Beispiel die erste evangelische Kirche Luzerns erst 1860/1861 gebaut, und zwar nach einer Schenkung des Grundstücks durch den Besitzer des Hotels Schweizerhof; 1870 heiratete Wagner dort) und danach als Bundesstaat bot sie den Vertriebenen aus Deutschland und anderen Ländern einen Fluchtraum, in dem die damaligen «Nestbeschmutzer» und heutigen «Kulturhelden» weiterhin tätig sein konnten und durften – nach 1848 etwa auch Alexander Herzen, Gottfried Semper und eben Richard Wagner. In diesem Sinne ist es nur logisch, dass der Dichter des «Deutschlandlieds» («Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland»), August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, 1843 eine Liedersammlung «Deutsche Lieder aus der Schweiz» im «Literarischen Comptoir Zürich und Winterthur» von Julius Fröbel herausgab.
Hier endlich haben wir die Hauptverbindungslinie zu Ludwig Feuerbach. Die erwähnten Zensurverschärfungen führten nämlich zuerst in Preussen, wo die sogenannten «Halleschen Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst», herausgegeben von Arnold Ruge und Theodor Echtermeyer, die seit 1838 auch Artikel von Feuerbach enthielten, dazu, dass dieses Journal 1840 nach Dresden in Sachsen umzog, wo es als «Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst», neu nur noch herausgegeben von Ruge, noch drei Jahre lang erschien. Aber in Sachsen konnte eine Reihe Texte des Philosophen und anderen Beitragenden nicht erscheinen, darunter die der Explikation der philosophischen Grundlagen von «Das Wesen des Christentums und einer neuen Philosophie dienenden Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie», weil sie von der Zensur gestrichen wurden. Mit der brieflichen Information über einen gravierenden Zensureingriff am 24. Februar 1842 bittet Ruge darum Feuerbach um Zustimmung, die Thesen zusammen mit anderen unterdrückten Beiträgen und einer aktenmässig belegten Kritik des Vorgehens der Zensurbehörden neu in der Schweiz drucken zu lassen, was für die deutsche Zensur «eine ungeheure Ohrfeige» bedeuten werde. Nach anfänglichem Zögern gab Feuerbach dann seine Zustimmung zu dieser Veröffentlichung und nach einjähriger, ebenfalls durch Zensur verursachter Verzögerungen erhielt er Ende Februar 1843 das Sammelwerk, das den Erstdruck der «Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie» enthält: «Anekdota zur neuesten deutschen Philosophie und Publicistik» von Bruno Bauer, Ludwig Feuerbach, Friedrich Köppen, Karl Nauwerck, Arnold Ruge und einigen Ungenannten (darunter Karl Marx), herausgegeben von Arnold Ruge im besagten «Literarischen Comptoir Zürich und Winterthur» Fröbels (darin auch das Feuerbachsche Zitat vom Anfang dieser Skizze).
Dies war jedoch nicht die einzige wichtige Veröffentlichung von Ludwig Feuerbach, die in der Schweiz publiziert wurde. Auch die an die Thesen anschliessenden bzw. sie ausführenden «Grundsätze der Philosophie der Zukunft» erschienen im selben Jahr 1843 im Spätherbst bei Fröbel, und zwar als eigenständiges Heft:
«Ich habe das Quantum eines Buchs auf ein paar Bogen reduziert, auf zirka 84 Thesen oder Paragraphen [in der veröffentlichten Fassung sind es 67] und diese aus artiger Zuvorkommenheit gegen die deutsche Zensur, welche die Prämisse derselben aus den Deutschen Jahrbüchern gestrichen, in die Schweiz exiliert.»
Doch gerade bei diesen Grundsätzen hatte Feuerbach Angst, dass sie wie Georg Herweghs «Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz», die 1843 ebenfalls im «Literarischen Comptoir» erschienen, aber in Zürcher Buchhandlungen unter dem Druck der preussischen Regierung beschlagnahmt worden waren, auswärtige Repressalien erfahren haben und daher sogar noch vor dem Druck kassiert worden sein könnten. Denn die liberale Haltung in Zürich war seit 1839 immer wieder ins Schwanken geraten, weil es die antimodern eingestellten Kleriker verstanden, die hinterwäldlerisch konservative Landbevölkerung gegen die Stadtregierung aufzuwiegeln. Diese Vorkommnisse bewirkten allerdings, dass Feuerbach nach Erscheinen der «Grundsätze» seinem Zürcher Verleger Hilfe leistete: Er liess Julius Fröbel, nachdem dieser wegen seiner verlegerischen Tätigkeit von den Schweizer Behörden des Verbrechens der «Religionsstörung» angeklagt worden war, im Dezember 1843 einen «Zitatenschatz» freimütiger Äusserungen in Religionsfragen vor allem von Friedrich II., Gotthold Ephraim Lessing, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Georg Christoph Lichtenberg, Johann Gottlieb Fichte und August Wilhelm Schlegel zugehen, die dieser in seiner Verteidigungsschrift «Das Verbrechen der Religionsstörung nach den Gesetzen des Kantons Zürich» (1844) zum Teil verwendete. Der Verlag selbst existierte unter der Leitung Fröbels danach noch zwei Jahre, um nach fünf Jahren als «Exilverlag» seine Aufgabe zwangsweise einstellen zu müssen, da der deutsche Bundestag Mitte 1845 sämtliche im Verlag erschienenen Schriften auf die Verbotsliste gesetzt hatte und Bücher und Verkaufserlöse, soweit er ihrer habhaft werden konnte, beschlagnahmen liess.
Die beiden Feuerbachschen Veröffentlichungen und die – wenn auch kleine – Mithilfe bei Fröbels Verteidigungsschrift hatten zusammen mit all den anderen Schriften der «Vormärzler», die in Zürich und Winterthur erschienen, neben der allgemeinen Atmosphäre, der Liberalisierung, die sie miterzeugten, noch eine weitere Wirkung: Gottfried Keller, der zu jener Zeit eigentlich immer noch zögerte, ob er nun lieber Maler oder Schriftsteller werden solle, wurde im Kreis dieser Atmosphäre in Zürich zum Lyriker und entschied sich schliesslich ganz für die Literatur. Aber es war vor allem seine politische Ausrichtung, die in jener Zeit ihre Neigung fand: Nachdem er 1844 und 1845 an den beiden Zürcher «Freischarenzüge» teilgenommen hatte, die es sich zum Ziel setzten, die konservative Regierung des Kantons Luzern zu stürzen und die Jesuiten zu vertreiben – was dann wiederum sehr direkt den «Sonderbundskrieg» von 1847 auslöste –, besuchte Keller im Revolutionsjahr 1848 Heidelberg, wo er Feuerbach das erste Mal sogar persönlich trifft und sich begeistert über ihn äussert:
«Das Merkwürdigste, was mir hier passirt ist, besteht darin, dass ich nun mit Feuerbach, den ich einfältiger Lümmel in einer Rezension von Ruges Werken auch ein wenig angegriffen hatte, dass ich mit diesem gleichen Feuerbach fast alle Abende zusammen bin, Bier trinke und auf seine Worte lausche. Die Welt ist eine Republik, sagt er, und erträgt weder einen absoluten, noch einen konstitutionellen Gott (Rationalisten). Ich kann einstweilen diesem Aufrufe nicht widerstehen. Mein Gott war längst nur eine Art von Präsident oder erstem Consul, welcher nicht viel Ansehen genoss, ich musste ihn absetzen.»
«Mein Gott war längst nur eine Art Präsident, ich musste ihn absetzen»: Gottfried Keller macht mit dieser Formulierung aufmerksam auf eine tiefere Verbindung zwischen Feuerbach und der Atmosphäre in der Schweiz. Die politischen Ideen, die seit der Französischen Revolution umherschwirrten und denen in der Schweiz seit Anfang der 1830er-Jahre eine Art erfolgreiches «Versuchsfeld» geboten wurde, korrespondieren mit Feuerbachs Gedanken: «Wie einst von der Kirche, so muss sich jetzt der Geist vom Staate freimachen. Der bürgerliche [also auf gesellschaftliche Anerkennung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer höheren «Kaste» nicht rechnende] Tod ist allein der Preis, um den Du Dir jetzt die Unsterblichkeit des Geistes erwerben kannst», schrieb sich Feuerbach selbst ins autobiographische Stammbuch.
Man darf den einzigen Besuch Feuerbachs im «politischen Versuchslabor Schweiz» im Sommer 1845 daher auch in diesem Zusammenhang sehen: Was der Philosoph im «Wesen des Christentums» 1841 paradigmatisch am Beispiel der religiösen Projektion vorgeführt hatte und 1842/1843 in programmatischen Schriften generalisierte, waren immer auch Hinweise auf Schritte zu einer politischen Veränderung als Teil der «Notwendigkeit einer Veränderung» ganz allgemein: «Die Religion hängt nun allerdings mit der Politik auf Innigste zusammen; aber unser hauptsächlichstes Interesse ist gegenwärtig nicht die theoretische, sondern praktische Politik», wie Feuerbach 1848 in Heidelberg (öffentliche Vorlesungen im Rathaussaal) zusammenfassend feststellte. So war er 1842 konsequenterweise sofort bereit, bei einem von Georg Herwegh geplanten Journal, das in der Schweiz erscheinen sollte, dem «Deutschen Boten», seine Mitarbeit zuzusagen:
«So billige ich Ihr Unternehmen insofern gänzlich, als Sie der unbeschränkten Freiheit einen Platz öffnen wollen.»
Und vielleicht darf man es sogar als Zeichen lesen, dass Feuerbach die Herausgabe seiner «Sämmtlichen Werke» mit Otto Wigand und Julius Fröbel ausgerechnet auf seiner Schweizerreise besprach.
Als eine Art Zeichen allgemeiner Art darf man auch die überlieferte Enttäuschung des Philosophen nach der Schweizreise deuten: Vordergründig betraf sie zwar seine allgemeine Laune, aber es kann kein Zufall sein, dass sich Feuerbach später (nachdem er um 1832 in die Schweiz [!] auswandern wollte; 1848 folgte gar ein missglückter «Versuch», nach Frankreich auszuwandern: «Vive la République!») dem eigentlichen Urbild des 1848 begründeten Zwei-Kammer-Systems des Schweizerischen Bundesstaates zuwandte, den Vereinigten Staaten von Amerika, um letztlich sogar Auswanderungspläne zu schmieden in dieses «Land der Freiheit»:
«Du Glücklicher segelst jetzt selbst in das jugendliche Amerika hinüber, und ich sitze auf dem Mist des alterfaulen Europa.»
Dabei wäre die Beziehung Feuerbachs zum frischen schweizerischen Bundesstaat nach 1848 durchaus fast eine überaus tiefe geworden. Denn bekanntlich hat Richard Wagner, der etwa zehn Jahre lang ein glühender Feuerbach-Anhänger war, nicht nur seine schon vom Titel her «feuerbächische» musiktheoretische Arbeit, «Das Kunstwerk der Zukunft» von 1850, dem Philosophen gewidmet; Ende 1851 lud er Feuerbach sogar brieflich ein, zusammen mit ihm und Georg Herwegh den Winter in der Schweiz zu verbringen (seit 1849 lebte Wagner im Schweizer Exil) – und zwar mit der Idee im Hinterkopf, Feuerbach ganz zu einer Übersiedlung in die Schweiz veranlassen zu können, um im «politisch desolaten Mitteleuropa alle Kräfte des Neuen an einem Punkt zu versammeln». Was Feuerbach, in praktischen Fragen immer schon zögerlich, ablehnte.
Es entbehrt nicht der bitteren Ironie, dass es dann ebenfalls Georg Herwegh war, der Richard Wagner das erste Mal Schopenhauers «Die Welt als Wille und Vorstellung» in die Hand drückte, worauf er Feuerbach als Leitstern ziemlich schnell fallenliess: «Und er [= Wagner] übersetzte den ‹Ring› ins Schopenhauersche.» (Friedrich Nietzsche) Sogar die Widmung der Erstausgabe von «Das Kunstwerk der Zukunft» tilgte Wagner bei späteren Auflagen.
Was in der Schweiz von Feuerbach dann vorerst trotz allem blieb, war zumindest das literarische Denkmal, das ihm Gottfried Keller, der die intellektuelle Wendung nach der gescheiterten Volksvereinigung von 1848/1849 nicht mitmachte und sein Leben lang ein gemässigter Feuerbachianer und Parteigänger einer kommenden Demokratie auch in Deutschland war, im «Grünen Heinrich» (1854/1855) setzte:
«Da ist Ludwig Feuerbach, der bestrickende Vogel, der auf einem grünen Aste in der Wildnis sitzt und mit seinem monotonen, tiefen und klassischen Gesang den Gott aus der Menschenbrust wegsingt!»
Gottfried Keller blieb – nachdem er 1848/1849 den Philosophen in Heidelberg getroffen hatte – gewissermassen Feuerbachs gewichtigster bleibender ‹Export› in die Schweiz – neben seinem eigenen Werk.
Die Schweiz selbst allerdings wäre in ihrem politischen Realsystem bis heute wohl nicht so, dass sie Feuerbach als Bürger gefiele.
- gesichtet #97: Basels Untergrund
- Dominik Riedo über ein Bild Uwe Johnsons