Dominik Riedo über ein Bild Uwe Johnsons
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte; mehr als tausend Tage, die erst noch Wort werden müssen. Dominik Riedo über eine Fotografie von Uwe Johnson.
Bild
von Dominik Riedo
Das Bild ist lange schon bekannt. Es wurde 1953 bei Güstrow aufgenommen und zeigt Uwe Johnson, wie er Pfeife rauchend in die Landschaft blickt. Er sitzt dort auf einem nicht sichtbaren Stein oder auch nur einer Graserhebung, mit kurzen Hosen, seine Schuhe sind helle Flecken.
Nichts wirklich Beunruhigendes also. Und doch: Stösst der Betrachter zum vielleicht zehnten Mal auf dieses Foto, so schaut er genauer hin. Warum eigentlich ragt Johnsons Kopf so deutlich in den hellen Himmel hinein? Als habe man hier ganz bewusst auf diese Wirkung hingearbeitet. Denn der Fotografierende muss sich absichtlich hingekniet haben. Heute kann man das als Vorwegnahme, als Ahnung alles Späteren sehen: Uwe Johnson, der Kopfmensch, der sich am Ende seines Lebens stundenlang allein in seinem Zimmer aufzuhalten vermochte und Gespräche mit seinen Figuren führte. Der nur mit seinen Gedanken in den Himmel ragte.
Aber konnte er, konnte jemand dies damals schon wissen? Wissen, wie Johnsons Leben einmal aussehen würde? Auf dem Bild von 1953 sieht man nämlich einen jungen, eigentlich sogar gesund aussehenden Menschen. Man ist gewillt zu denken, dass er jeden Moment aufspringen könnte und mit dem Boot auf den Inselsee hinausfahren möchte. Seine Augen werden dabei leuchten, auch wenn sie bereits damals hinter Brillengläsern verschwinden. Es ist auf dem Foto eine Zeit abgebildet, bevor der Autor sich später völlig aufgab, weil er den Glauben an alles verloren hatte, scheinbar betrogen von seiner Frau und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), die, Letztere, nicht das geworden war, was er in den Anfängen vielleicht gerne geglaubt hatte. Verluste überall. Bis hin zum Verlust des Schreiben-Könnens, hin zum lange andauernden «Writer’s disease».
Verluste hatte Johnson immer schon hinnehmen müssen. Sein Vater verschwand am Ende des Zweiten Weltkrieges einfach. Ist nie mehr aufgetaucht. Seine Mutter zog in den Westen. Beste Kameraden konnten seine Flucht aus der DDR nicht nachvollziehen. Und Verluste sind denn auch ein Hauptthema in den «Jahrestagen» (1970, 1971, 1973 und 1983), in denen fast alle etwas verlieren. Keine Gewinner am Ende. Wie bei Johnsons eigenem Leben wieder. Als er ganz am Schluss in seinem Haus nach Jahren der Einsamkeit starb. Und für annähernd drei Wochen nicht gefunden worden ist.
Vielleicht war er auch in den letzten Momenten beim Reden mit seinen Figuren, in der eigenen Welt. Man möchte es ihm wünschen. Beim Rotweintrinken im Gespräch mit Gesine, der einzigen Frau, die er in späten Jahren neben der Putzfrau wohl noch über seine Türschwelle liess. Man möchte Uwe Johnson ein schönes Ende wünschen, zumindest ein schönes Ende seiner Gedanken.
Denn uns, den Lesern, hat er etwas hinterlassen, für uns gibt es Gewinner: Wir sind es. In den Seiten der «Jahrestage» zu blättern, der Zeit auf der Spur zu sein, die einmal war und sich bei ihm in der Literatur so gut wiederholt, so deutlich und doch unfassbar abzeichnet, ist pure Freude. Man sieht alles vor sich: Szenen, wie Junge über das Land bei Güstrow gehen. Man möchte sich gleich dahin versetzen lassen. Und wie Johnson selbst einfach in der Landschaft sitzen.
Aber vermutlich ist heute alles anders. Wohl auch schon damals. Nur seine Augen haben die Landschaft und ihre Menschen zu dem gemacht, was er dann beschreibt. Oder gar erst seine Beschreibung wird für uns erst zu dem, was das Beschriebene dann als so grossartig erscheinen lässt, dass man diese Landschaft unbedingt sehen möchte. Die von damals also.
Und er sitzt darin, in dieser Traumlandschaft, im Foto nun wieder, und denkt. Was denkt er wohl? Sein Oberköper ist in Dunkel gehüllt, die Hände umfassen die Oberarme, wie zum Schutz. Nun, es mag Wind gegeben haben, wer weiss? Immerhin trägt er zum Wärme versprechenden Pullover nur kurze Hosen. Sind es Badehosen? Oder ein Zeichen dafür, er fühle sich doch noch nicht ganz erwachsen? In der Welt, in der er immerhin schon raucht. Denn die Pfeife, sie fehlt auch hier nicht, schon damals vermutlich ein Signal. Wofür? Selbst der Haarschnitt ist ein Rätsel, wie später immer wieder. Zumindest aus heutiger Sicht. Aber hat er nicht schon alles gewusst? Geahnt, was alles kommen würde?
Da war einer, der stand allein auf der Welt. Und manchmal, in seinen schönsten Zeiten des eigenen Lebens, da durfte er sitzen. Entspannt. Vielleicht dachte er in solchen Momenten auch einfach nichts. Genoss. Für wenige Sekunden. Das Leben.
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