Die europäische Grippe – Kirill Serebrennikovs «Petrov’s Flu»
Der russische Regisseur («Leto») überzeugt auch mit seinem neuen Film, einer traumartigen Reise durch Präsens und Vergangenheit …
Im postsowjetischen Russland arbeitet der Automechaniker Petrov (Serzin) auch als Comiczeichner. Seine Familie kriegt die Grippe, und er trifft Igor (Kolokolnikov), mit dem er durch die Welt der Lebenden und der Toten navigiert.
Kirill Serebrennikov ist ein Filmemacher, der in Putins Russland auch schon vor der Invasion der Ukraine nicht besonders geschätzt wurde – das zeigt sich auch daran, dass neben russischen gleich Produktionsfirmen aus drei europäischen Ländern den Film finanziert haben – und zwar Frankreich, Deutschland und die Schweiz.
Sicherlich ist Serebrennikov ein kritischer Filmemacher, aber seine Kritik wendet sich nicht einfach gegen Russland, sondern ganz allgemein gegen reaktionäre Tendenzen – «Utschenik» war sogar die Verfilmung eines deutschen Theaterstücks und gar kein russischer Stoff.
Das zeigt eben, dass Serebrennikovs Filme – auch wenn stark in Russland verwurzelt – eben doch auch universell sind: ein Jugendlicher, der zum religiösen Fundamentalisten wird wie in «Utschenik» – diese Geschichte würde sich in Deutschland oder der Schweiz sicher etwas anders abspielen, so würde etwa wohl kein orthodoxer Geistlicher vorkommen.
Aber bei aller Verwurzelung in der russischen Kultur und Geschichte – Sereberennikov geht es um die Darstellung der Ideologien, die uns prägen, und auch wenn diese verschiedene Formen annehmen – sie sind in der Schweiz ebenso präsent wie in Russland. Väterchen Frost oder Santichlaus – Schmutzli oder Snegurotschka – bei allen Unterschieden, es sind eben doch ideologische Elemente, die auch verbinden.
Russland und die Schweiz natürlich noch mehr als andere Weltgegenden, auch wenn Ideologen hüben wie drüben immer wieder so tun, als hätten wir gar nichts mit Europa zu tun … Sicherlich wäre es schwieriger, den Stoff von «Utschenik» etwa nach Afrika oder Lateinamerika zu verlegen – vielleicht wäre es auch korrekter, von einer paneuropäischen, nicht universellen Prägung zu reden … Serebrennikov ist sicher ein europäischer Filmemacher.
Dazu passt auch: Im Moment verfilmt Serebrennikov Emmanuel Carrères Buch über Edmund Limonow – diesmal (mit «Tchaikovsky’s Wife») hat er die Goldene Palme zwar nicht gekriegt. Wer weiss, vielleicht klappt es ja das nächste Mal …
Und dies noch zum Schluss: Der russische Maestro, der nun definitiv im europäischen Exil angekommen ist, ist nicht zuletzt ein grosser Stilist. Sicher ist er ein politischer Filmemacher, aber eigentlich geht es doch in erster Linie um die Kunst. Wie schon in «Leto» spielt der Kontrast zwischen Schwarzweiss und Farbe auch in «Petrovy v grippe» eine wichtige Rolle.
«Petrovy v grippe». Russland/Frankreich/Deutschland/Schweiz 2021. Regie: Kirill Serebrennikov. Mit Semyon Serzin, Chulpan Khamatova, Yuliya Peresild, Yuri Kolokolnikov, Yuriy Borisov, Ivan Dorn, Aleksandr Ilin, Vladislav Semiletkov u. a. Deutschschweizer Kinostart am 23. Juni 2022.
- Analog, aber doch sehr aktuell – Arnaud Desplechins «Tromperie»
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