Blick in den Abgrund – Halfdan Ullmann Tøndels «Armand»

Ein tiefer Blick in die Familie, in die Schule, in die Traumata, die die Menschen prägen.  Ein Blick in unsere Abgründe.

Armand soll Jon gegenüber Grenzen überschritten haben. Jon wurde auf der Toilette aufgefunden, weinend. Die Eltern der zwei 6-jährigen Kinder werden vorgeladen; die junge Nachwuchslehrerin Sunna soll die Wogen glätten und abklären, was wirklich passiert ist …

Nur ganz langsam enthüllt der Regisseur und Drehbuchautor in «Armand», worum es eigentlich geht. Anfangs wähnt man sich in einem Me-Too-Szenario unter 6-Jährigen und wundert sich, wie so etwas möglich ist. Auch wenn natürlich nie wirklich enthüllt wird, was zwischen Jon und Armand – die sich sehr gut kennen, wie erst langsam klar wird – vorgefallen ist. Es ist nicht ganz einfach, über den Film zu schreiben, ohne zu viel preiszugeben. Aber vielleicht sehen wir auch alle den Film etwas anders: Sind es am Schluss allein die Traumata der Eltern, die von den Kindern nachgespielt werden – oder sind es eigene (reale oder imaginierte) Traumata, die sie neu inszenieren? Der Name Armand – sicherlich nicht typisch norwegisch, sondern eher französisch und/oder auch katalanisch – steht dabei in schroffem Kontrast zu Jon, diesem so norwegischen Johann – sogar der Nobelpreisträger Jon Fosse heisst so. Armand ist also schon so klar markiert als der Andere, und eben so sehen ihn die Eltern von Jon. Dabei kennen sie ihn eben auch sehr gut; er ist in keiner Weise einfach der Fremde oder der Andere.

Bild: zVg

(Bild: zVg)

Mehr sei hier nun nicht verraten; der Film lebt nicht zuletzt von seinen Überraschungsmomenten. Nur so viel: Zwei Tanzszenen im Film erzählen mehr über die Figuren und geben dem Film eine andere, neue Ebene. Wie in «C’è ancora domani» wird die Gewalt so auf eine etwas erträglichere Art gezeigt (zumindest in der einen Szene); zugleich ist es ein künstlerisches Gestaltungsmittel, das die Filme stilistisch ganz klar aufwertet. Nicht zuletzt wird so die visuelle Ebene betont und es werden Geschichten erzählt, jenseits vom Verbalen. In einem Film von Ken Loach (der kaum etwas offenlässt) würde dies sicher nicht passen; in einem Film wie «Armand», der vieles offen lässt (auch sehen wir Jon und Armand nie; oder zumindest wissen wir nicht, ob die Bilder wirklich ihnen zugeordnet werden müssen), überzeugt dies aber auf jeden Fall. Sicher wäre es auch möglich, den Film ganz anders zu inszenieren und alles zu enthüllen, doch dies ist sicher nicht das Ziel von «Armand». «Armand» ist ein Film, der künstlerisch überzeugt, aber auch zum Denken anregt und nicht zuletzt mit starken schauspielerischen Leistungen aufwartet.

«Armand». Norwegen/Niederlande/Deutschland/Schweden 2024. Regie: Halfdan Ullmann Tøndel. Mit Renate Reinsve, Ellen Dorrit-Petersen, Endre Hellestveit-Anders, Øystein Røger-Jarle, Thea Lambrechts Vaulen, Janne Heltberg, Vera Veljovic-Jovanovic u. a. Deutschschweizer Kinostart am 21. November 2024


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