Ibrahams Opfer – Kutlug Atamans «Kuzu»

In Anatolien wird die Beschneidung des kleinen Mert (Mert Tastan) gefeiert. Nur hat die Familie gar kein Geld – und zu allem Unglück ist der Vater Ismail (Cahit Gök) mehr an einer Prostituierten (Nursel Köse) in einer nahe gelegenen Stadt interessiert als am Wohlergehen seiner Familie.

Merts Schwester Vicdan (Sila Lara Cantürk) erzählt dem kleinen Mert unschöne Märchen, während Mutter Medine (Nesrin Cavadzade) völlig ahnungslos den Alltag lebt.

Kutlug Atamans Film ist die Geschichte einer Beschneidung. Anders als in Riad Sattoufs autobiografischem Comic «Ma circoncision» muss Mert allerdings nicht mehr lange auf die kleine Operation warten – er muss allerdings auch nicht lange auf die Desillusionierung warten. Während sich der kleine Riad bei aller Angst doch noch etwas auf den Goldorak, ein japanisches Spielzeug in Roboterform, freut, weiss Mert schon bald, dass es kein Fest gibt. Er gibt aber nicht auf und redet mit dem Schäfer (Necmettin Cobanglu) und bittet ihn um eine Spende.

Kutlug Atamans Film ist aber auch die Geschichte des Opfers, wie sie in der Bibel und im Koran erzählt wird. Gott fordert von Abraham (bzw. Ibrahim), dass dieser seinen eigenen Sohn opfern soll – und erst am Schluss lässt er ab von seinem Vorhaben. Anstelle des Sohns dürfen die Menschen nun ein Schaf opfern. In Abwesenheit eines Schafs erfindet nun Schwester Vicdan die Geschichte eines neuen Menschenopfers: Papa Ismail soll seinen Sohn Mert opfern. Sie selber, sagt sie im Brustton der Überzeugung, sei nur ein Mädchen und deshalb zu wenig wertvoll.

Der kleine Mert (Mert Tastan) schaut in eine ungewisse Zukunft. (Bild: zVg)

Der kleine Mert (Mert Tastan) schaut in eine ungewisse Zukunft. (Bild: zVg)

Kutlug Atamans Film ist auch die Geschichte des Bruchs zwischen Stadt und Land, zwischen Tradition und Innovation. Ismail hat zwar wenig Geld, aber das Geld, das er hat, gibt er lieber der «Künstlerin» – sie steht für den Fortschritt. Seine gutgläubige, um nicht zu sagen naive Frau lässt er links liegen. Am Schluss kann die Familie das Dorf verlassen – die Solidarität, die es im Dorf nicht gibt, findet Ismails Familie dort, wo sie niemand vermutet hätte. Ein starker Film, der zum Nachdenken anregt.

«Kuzu». Türkei/Deutschland 2014 . Regie: Kutlug Ataman. Mit Mert Tastan, Nesrin Cavadzade, Sila Lara Cantürk, Cahit Gök, Nursel Köse, Necmettin Cobanglu u.a. Deutschschweizer Kinostart: 6.11.2014.


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