Langer Kampf für die Emanzipation – Maja Tschumis «Immortals»
Die Schweizer Regisseurin Maja Tschumi legt einen eindrücklichen Dokumentarfilm vor, in dem der Kampf der Menschen im Irak dargestellt wird – in ihren eigenen Worten. In Solothurn wurde der Film mit dem «Prix de Soleure» ausgezeichnet.
Nach dem Ende der Diktatur Saddam Husseins im Irak wird ein konfessionelles System eingeführt, in dem – anders als unter Hussein – auch Schiiten Einfluss geltend machen können. Wie im Libanon führt dieses System aber zu neuen Ungerechtigkeiten; ausserdem ist der Einfluss der Clans sehr stark: Oft sind sie es, die eigentlich das Schicksal der Menschen bestimmen. 2019 muss der Premier zurücktreten, es kommt zur Oktober-Revolution; 2022 stürmen die Sadristen das Parlament …
Milo ist eine junge Frau im Irak. Ihr Pass wurde von ihrer Familie verbrannt. Sie trägt kurze Haare, um sich unerkannt zu bewegen. Damit macht sie sich aber noch mehr zur Aussenseiterin in der patriarchalen, konfessionell organisierten Gesellschaft. Auch der Filmemacher Khalili setzt sich für mehr Demokratie im Irak ein. Auch in seinem Fall ist es letztlich die Familie, die die Entscheidungen macht …
Maja Tschumis neuer Dokumentarfilm, der beeindruckt und stilistisch ansprechend umgesetzt ist – er hätte wahrscheinlich den Oscar ebenso verdient wie «No Other Land». Zugegeben, mit einem kunstvollen Werk wie Johan Grimonprez’ «Soundtrack to a Coup d’Etat» können wohl beide nicht mithalten – müssen sie aber auch nicht.
Bei «No Other Land» sind die Filmemacher:innen zugleich Aktivist:innen; Maja Tschumi versteht sich selber als Aktivistin, auch wenn sie am Geschehen nicht direkt beteiligt ist. Sie hat allerdings das Drehbuch zusammen mit Milo und Khalili geschrieben. Viele Szenen wurden zudem nachgestellt. Gleichzeitig sind die Filme von Abbas Kiarostami eine wichtige Inspirationsquelle; der Spielfilm ist ihr also mindestens so nahe wie der Dokumentarfilm.
Michael Wolffsohn schreibt in der NZZ [1], dass ein Dokumentarfilm ausgewogen sein muss. Wirklich? Es ist doch nicht immer möglich, allen Perspektiven gerecht zu werden; und wenn etwa Yolande Zauberman «Classified People» Südafrika aus der Sicht der rassifizierten Menschen und der Gegner der Apartheid zeigt, dann ist dies sicher gerechtfertigt. Wer mit der Apartheid sympathisiert, wird sich auch von ihrem Dokumentarfilm nicht umstimmen lassen. Vor allem aber ist ein Dokumentarfilm ein filmisches Kunstwerk und nicht in erster Linie journalistisch zu verstehen.
Auch dem Spielfilm «November 5» von Tim Fehlbaum wurde vorgeworfen, dass er die Perspektive der Palästinenser:innen nicht zeigen würde. Aber warum soll er das? Das ist ja kaum Thema des Films; und auch in «No Other Land» muss ja kein Interview mit Benjamin Netanyahu oder Bezalel Smotrich vorkommen. Ein Film ist keine wissenschaftliche Arbeit.
In «No Other Land» machen zwei Aktivisten, Yuval und Basel, Witze: Sie könnten nach Fidschi auswandern. Auch das Thema Heirat wird angesprochen – als Witz. Anders in «Immortals»: Hier muss der Aktivist heiraten. Wir sehen, wie die Familien zusammen kommunizieren; eine Braut ist aber nirgends zu sehen. Sie hat ja sicher auch nichts zu sagen. Aber auch Khalili wird nicht gefragt. Heirat: hier ein Witz unter Freunden, dort vermutlich eine arrangierte Heirat. Ob auch Basels Hochzeit arrangiert war?
Was ist Realität, was ist Fiktion, was ist ein Witz, was ist bitterer Ernst? Oft ist ja die Realität in der Fiktion besser sichtbar; und auch ein Dokumentarfilm ist eben letztlich doch inszeniert, oder zumindest redigiert, neu zusammengesetzt. Und besser verständlich ist ein Dokumentarfilm eben auch nicht zwingend. Den eigenen Horizont kann man auf jeden Fall sowohl mit Dokumentar- als auch Spielfilmen erweitern. Ein allzu naiver Blick auf das Medium ist aber nicht zu empfehlen. Ein kritischer Blick ist sicher nicht falsch.
«Immortals». Schweiz/Irak 2024. Regie: Maja Tschumi. Dokumentarfilm. Deutschschweizer Kinostart: 24. April 2025.
Weiterführende Links und Quellen:
[2] https://www.theleftberlin.com/film-review-no-other-land/
[3] https://www.woz.ch/2444/no-other-land/was-ist-los-in-masafer-yatta/!R3R4RJJFP52P
[4] https://www.woz.ch/2502/kino/das-fieber-der-echtzeit/!YCNDTNAJKFC3
[5] https://variety.com/2024/film/festivals/immortals-review-1235944130/