Der Mythos der intakten Heimat – «Vinegar Tom» im Englischen Seminar

Die neue Produktion der Basler Theatergruppe «The Gay Beggars» thematisiert Feminismus vor dem Hintergrund der Hexenverfolgungen des 17. Jahrhunderts. Zeitnah berichtet von einer der Aufführungen.

Paranoia hat kein Ablaufdatum: «Vinegar Tom» zeigt unangenehme Parallelen zu aktuellem Zeitgeschehen. zVg

Von Daniel Lüthi

Es ist schwierig, heutzutage nicht politisch zu sein. Die Konturen der Gegenwart sind schärfer geworden, radikaler, und mehr denn je zählt, auf welcher Seite jemand steht. Oder zu stehen scheint. Egal, worum es geht, Sündenböcke sind häufig schnell gefunden, verurteilt und oft noch schneller wieder vergessen. Ein Teufelskreis, könnte man sagen.

In diesem Chaos ein Gleichgewicht zu finden, ist ebenfalls komplex. Von Gleichberechtigung wollen wir gar nicht erst reden. «Feminismus» ist ein Schimpfwort geworden, ein Schreckgespenst, von dem sich viele bedroht fühlen. Werfen wir einen Blick zurück in die Geschichte, kommt der Begriff «Hexenjagd» recht schnell hinzu. Hier setzt das neue Stück der Basler Theatergruppe «The Gay Beggars» an und schlägt eine Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit.

Ausgrenzung des Anderen

«Vinegar Tom» ist im England des 17. Jahrhunderts angesiedelt, wurde aber in den 1970ern geschrieben. Caryl Churchills Drama ist mittlerweile ein Klassiker des Second-Wave-Feminismus geworden. Das Grundthema trifft auf die heutige Zeit haargenau zu: In einem kleinen englischen Dorf werden Frauen angeklagt, Hexen zu sein. Non-Konformismus führt zu Ausgrenzung, Strafe und im schlimmsten Fall Tod – ein Ablauf, der auch heute häufig (leider) immer noch demselben Muster folgt.

Eine der zentralsten Szenen des Stücks ist stellvertretend für die Tiefe der Misogynie: Nachdem eine Dorfbewohnerin eine andere als Hexe angeklagt hat, wird sie vom Inquisitor postwendend selbst bestraft, da sie heimlich ihr Kind abgetrieben hat. Einer Frau gehört in dieser Welt nichts – schon gar nicht der eigene Körper. Auch wer alt, alleine oder schlicht nur seltsam ist, ist verdächtig. Und Verdacht verleitet schnell zur Anklage.

Echos von Brexit

Der Mythos der intakten Familie, eines intakten Heimatlands, welcher sich durch «Vinegar Tom» zieht, ist ebenso heuchlerisch wie gefährlich. Fremde oder fremd anmutende Nachbarn haben in diesem Ideal nichts zu suchen. Wer die lauteren Argumente der Brexit-Befürworter oder Trump-Supporter verfolgt, findet in «Vinegar Tom» unangenehme Echos. Die Kehrseite dieses Mythos – fokussierte Wut und Paranoia – endet stets in Gewalt und Ausgrenzung.

Vieles im Stück funktioniert. Die Botschaft ist klar, die Umsetzung düster und unmissverständlich auf die Gegenwart (sprich: die heutige Zeit) ausgerichtet. Doch holpert es auch manchmal ein bisschen: In einem Brecht’schen Manöver werden zentrale Themen mit Liedern ausgedrückt – doch auf die Dauer lenkt dies von der Aufführung zu sehr ab. Dass schlussendlich die titelgebende Katze einer der Frauen – vermutungsweise ein Dämon – an allem Hexenwerk schuld gewesen sein soll, wird ebenso nur ansatzweise impliziert. Das mag verwirrend wirken, wenn man nach dem Sinn des Stücktitels sucht.

Dennoch: «Vinegar Tom» ist sehenswert. Das Ende lässt einiges offen und unterstreicht die Tatsache, dass Frauenhass und Doppelmoral noch alles andere als Vergangenheit sind. Wir verlassen das Englische Seminar am Nadelberg 6 auf jeden Fall nachdenklich. Und das nächste grosse Projekt der Gay Beggars steht schon an. Wir dürfen gespannt sein!

«Vinegar Tom» läuft im Englischen Seminar noch bis am 11. Mai 2019. Weitere Infos und Tickets gibt’s auf https://www.gaybeggars.ch.


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