Ein Plattsprecher in der Banlieue – Samuel Theis‘ «Petite Nature»
Samuel Theis‘ Film über einen doch eher atypischen zehnjährigen Banlieue-Bewohner und sein Leben überrascht immer wieder und wirkt dann streckenweise aber doch fast dokumentarisch im Darstellen von Schule und Banlieue.
Der junge Johnny Jung lebt mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester in der Banlieue von Forbach im Département Moselle in der region Grand Est. Während seine Mutter ganz dem Klischee der Banlieue-Bewohnerin entspricht, wirkt er mit seinen langen blonden Haaren wie ein Alien in diesem rauen Umfeld … vielleicht auch deshalb fällt es ihm leichter, ein Gedicht von Blaise Cendrars nur seinem Lehrer, nicht aber seinen Mitschüler:innen vorzutragen. Oder ist doch mehr dahinter?
Der zehnjährige Johnny hat es nicht leicht. Er ist in vielem wie ein Fremdkörper in der Banlieue. Seine taffe Mutter muss da schon mal einspringen, um ihn und seine Schwester und Hund Gucci vor den frechen älteren Jugendlichen zu verteidigen. Mutter Sonia findet, der Junge sei zu wenig taff, der Lehrer Jean Adamski wiederum sieht in ihm einen seiner besten Schüler. Seine noch mangelhafte Rechtschreibung fördert er; so schenkt er ihm ein Buch mit kurzen Geschichten.
Johnny Jung spricht neben Französisch auch das Platt, den traditionellen rheinfränkischen Dialekt dieser Gegend. Auch hier wirkt er wie ein Alien in seinem eigenen Land – ausser von ihm hört man kein Wort Platt im Film; auch wenn zumindest eine Figur ihn versteht.
Sogar seine Schwester mit ihren dunklen Haaren scheint ihm nicht zu gleichen. Seine Mutter ist ihm nahe, doch er sehnt sich zweifellos nach einer Vaterfigur. Seine Mutter spricht das Französisch der Banlieue mit dem typisch affriziertem d vor i, sie sagt also «dji» oder «dchi» bzw. deutsch «dschi»; bei Johnny ist davon nichts zu hören. Vielleicht auch einfach, weil er eben nicht so emphatisch ausspricht wie seine Mutter.
Die Tradition ist ein wichtiges Element in Johnnys Leben, der Film endet auch kurz nach der Erstkommunion. Dabei begegnet er seinem Lehrer, er gibt ihm ein Dragée; er ist ihm zu nahe gekommen (nicht nur, weil er eben eine Vaterfigur sucht); trotzdem nimmt der Lehrer das Dragée in seinen Mund – sicherlich kein Zufall nach der Erstkommunion …
Samuel Theis‘ Film ist ein sehr einfühlsames Werk, das einen jungen Menschen auf der Suche zeigt. Am Anfang fragt Lehrer Adamski denn auch seine Schützlinge: Wo seht ihr euch in 20 Jahren? Das ist sicher nicht nur für Johnny eine schwierige Frage. Sein Name ist dabei ja eigentlich identisch mit dem Vornamen seines Lehrers (Jean); nur ist Johnny natürlich eigentlich eine Koseform und erinnert nicht zuletzt auch an Johnny Hallyday, diese französische Ikone mit englischem Namen. Gut möglich, das auch aus diesem Johnny mal eine bekannte Figur wird …
Und auch Johnny Hallyday (sein Vater war Belgier) war ja (im engeren Sinne) kein typischer Franzose: sein wirklicher Name war Jean-Philippe Léo Smet; auch sein Nachname war also germanisch wie der des jungen Johnny Jung. Vielleicht ist er wie Johnny Hallyday sowohl Teil der Peripherie als auch des Zentrums; kein Secondo (dafür sind beide doch zu französisch), aber aufgrund ihrer Wurzeln in der Peripherie doch anders. Und auch Johnny Hallyday ist ohne seinen Vater aufgewachsen …
«Petite Nature». Frankreich 2021. Regie: Samuel Theis. Mit Aliocha Reinert, Melissa Olexa, Jade Schwartz, Antoine Reinartz, Izïa Higelin, Ilario Gallo u. a. Deutschschweizer Kinostart am 7. Mai 2022.
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