Stille Tage am Wrath Point

Du schreibst an Thomi, du wärest froh, wenn er dich holen kommen würde. Du fühltest dich verloren. Du hättest genug von Schottland. Er solle dir verzeihen und dich holen kommen.
Du schreibst Thomi, es gebe eine Menge Dinge, die du nicht hättest tun sollen. Aber du glaubest auch, es gehe doch allen so. Du schreibst Thomi, es sei vielleicht ein Fehler gewesen, nach Schottland zu gehen. So weit weg von ihm, so weit weg von allem. Aber Ehrgeiz könne man dir doch nicht vorwerfen, du habest halt deine Habilitationsarbeit schreiben wollen, du habest die Chance nutzen wollen. Es falle dir nicht leicht, es zuzugeben, aber jetzt hättest du noch etwas viel Schlimmeres gemacht, falls es etwas Schlimmeres geben könne, als damals nicht mit ihm gesprochen zu haben, was er wohl als Verrat deinerseits habe interpretieren müssen.
Wobei du jetzt nicht sicher seist, ob du es gemacht hättest, das Schlimme, oder ob es dir passiert sei. Du dächtest aber, dass das jetzt auch keinen Unterschied mehr mache. Die Geschehnisse hätten ihren Lauf genommen, du seist erwischt worden und die Ursache spiele keine grosse Rolle mehr, da die Wirkung am Ende so katastrophal sei, dass kaum jemand sich lange mit der Ursache aufhalten würde.
Du schreibst, es sei zwar schlimm, dass es vorbei ist: Dass du nicht die jüngste Professorin für Geowissenschaften werden könntest. Es sei schlimm, dass deine Karriere vorbei sei. Nur weil du dich zum Ausruhen auf eine schottische Felsengruppe, oder, wie man es fachlich korrekt nennen würde: eine natürliche asymmetrische Gesteinsansammlung, gelegt hättest. Natürlich könntest du dir nicht vorstellen, dass dein kometenhafter Aufstieg in der Akademie, oder, wie man es fachlich korrekt nennen müsste: dein, einer Ansammlung von Gasen und Partikeln im luftleeren Raum ähnlicher Aufstieg, zu Ende sei, aber die Zukunft im schottischen Knast könntest du dir noch viel weniger vorstellen.
Du schreibst Thomi, dass du ihm deinen Alltag in Schottland beschreiben müssest, damit er es verstehen könne. Du wissest zwar noch und erinnertest dich gut, er habe immer die Ohren zugehalten, wenn du versucht hattest, ihm zu erklären, warum es wichtig sei, mehr über Nebel zu forschen, oder schon nur, wenn du versucht hattest, ihm zu erklären, was Nebel eigentlich sei. Es sei schade, dass er nie verstanden habe, dass die Geologie durchaus poetisch sei, sich mit dem Aufbau, der Struktur der Erde befasse und die Geowissenschaften natürlich an den Unis schon von alten Fürzen dominiert würden, doch das sei doch in seinem Gebiet, der philologischen Linguistik, nicht gerade anders. Du schreibst, es täte dir leid, wenn das jetzt sauer klinge, aber der Wahrheit zu liebe müsse man eigentlich sogar sagen, die philologische Linguistik werde von Fossilien dominiert, während in der Geologie immerhin noch ein, zwei rüstige Alte anzutreffen seien.
Dennoch müsstest du sagen, du hättest die Unterlagen richtig lesen sollen. Zwar war die Meteorologie immer dein Spezialgebiet gewesen. Aber wenn du die Unterlagen richtig gelesen hättest, wäre dir die Sache mit den russischen Apparaten nicht entgangen. Ihr seid ein Forscherteam aus acht Wissenschaftlern. Da seien vier Deutsche. Sehr fleissig. Es hätte zwei Schotten und einen Engländer. Alle zwar auch nicht mehr die jüngsten, aber welcher junge Mensch – ausser du, geleitet von deinem Ehrgeiz, die jüngste Professorin zu werden – würde schon in einer abgelegenen schottischen Bucht oder, wie man es korrekt sagen könnte, einer Gesteinsabtragung mit Gewässeranstoss, ein halbes Jahr lang das Vorkommen von Nebel beobachten wollen.
Aber vor allem hättest du die Unterlagen lesen sollen. Genauer. Dann hättest du nicht die russische Wetterstation bekommen.
Du schreibst, du hättest nichts gegen die Russen – aber das stimmt nicht mehr: Noch mehr als die monatelange Langeweile habe dir die russische Wetterstation zugesetzt. Zwar seist du nicht sicher, aber bevor es passiert sei, habe dir möglicherweise auch der schottische Whisky etwas zugesetzt, aber keinesfalls so, wie die blöde Wetterstation, die nie richtig funktioniert habe. Diese verdammten Apparate hätten nie die Wassertröpfchen exakt bestimmt, die Moleküldichte sei nie adäquat festgestellt worden, so dass du nach dreieinhalb Monaten einen verdammten Scheiss an Daten hattest.
Du schreibst Thomi, da hättest genauso gut zu Hause aus dem Fenster schauen und die Wolken zählen können.
Im Grunde habe die russische Station nur bei schönem Wetter funktioniert. Aber bei schönem Wetter komme selbst in dieser gottverlassenen Gegend von Schottland, dem Wrath Point, nur selten Nebel vor. Darum habest du vor einigen Nächten draussen geschlafen, darum habest du das Zelt in der Bucht aufgeschlagen und habest gehofft, am frühen Morgen wenigstens etwas Nebel analysieren zu können. Da sei noch ein Vorfall gewesen, eben der mit dem Whisky, er sei vielleicht auch ein Grund gewesen, warum du etwas Abstand von der Forschergruppe gebraucht habest. Du gebest es zu: nicht alle Geowissenschaftler, vor allem nicht alle Meteorologen, seien gleich nett. Aber eine gesunde Konkurrenz zwischen Wissenschaftlern vermöge wohl kaum zu erklären oder zu entschuldigen, was geschehen sei.
Selbst wenn eine Wissenschaftlerin dazu gezwungen gewesen sei mit russischem Equipment zu arbeiten, was ihr wohl wirklich nicht weiter geholfen habe und sei deswegen sogar möglich, dass sie deswegen einige Worte nach einigen Whiskys gesagt hätte, die sie sonst vielleicht so nicht gesagt hätte.
Du schreibst an Thomi, du wärest froh, wenn er dich holen kommen würde. Du fühltest dich verloren. Du hättest genug von Schottland. Er solle dir verzeihen und dich holen kommen. Du schreibst an Thomi, du seist sicher, dass er doch wisse, du habest nichts gegen Waisenkinder. Auch nicht gegen kleine Waisenkinder. Er verstände doch sicher, dass du das einfach nicht habest im Voraus wissen können.
Du seist früh aufgestanden wegen dem Nebel, und um den russischen Apparaten einen Tritt zu verpassen. Du müsstest vielleicht erklären, dass für dich Nebel ein Aerosol sei, dass vor allem im schottischen Norden Erkenntnisse darüber gewonnen werden könnten, wie das Klima vom Nebel beeinflusst werde. Du müsstest vielleicht auch erklären, er komme aus dem Boden, der Nebel, es seien die Wassertröpfchen, die Tränen, die die Erde weine, oder fachlich etwas korrekter könne man auch von einer auffliegenden Bewölkung sprechen.
Der Nebel sei sehr gut gewesen an diesem Morgen, und du habest die Daten in deiner Bucht problemlos erheben können. Ein Jammer nur, dass du etwas wenig Vergleichsmaterial habest. Immer wieder sei die russische Station ausgestiegen, doch seist du wachsam, wie du gewesen seist, immer bereit gestanden und habest sie wieder anwerfen können. Der Streit am Abend vorher, die Deutschen wollten ihre Daten nicht mit dir teilen, obwohl sie gar nicht zu Bewölkung forschen würden, hatte Spuren hinterlassen. Du seist müde geworden, nach Monaten zum ersten Mal habe die Sonne so richtig geschienen. Die Kleider, in denen du schon geschlafen hattest, waren extrem verschwitzt gewesen, auch wenn das im Anbetracht der Lage keine Entschuldigung sei.
Die Engländer hätten Whisky gekauft gehabt und alle hätten getrunken. Man sei sich in die Haare geraten.
Du schreibst an Thomi: Du hättest vielleicht einen der deutschen Kollegen einen verklemmten Eierkopf genannt. Der Schotte habe deine Doktorarbeit kritisiert und dich eine meteorologische Abenteuerin genannt, worauf du nicht mehr wissest, was du erwidert hattest, aber es könne sein, dass die unschöne Bezeichnung seines Geschlechtteils darin vorgekommen sei. Es sei dir peinlich und schämest dich, die Beherrschung derart verloren zu haben.
Du schreibst Thomi, er müsse dir glauben, du hättest nichts gegen Waisenkinder. Auch nichts gegen Schottische. Nicht einmal gegen Russische. Aber es wäre heiss gewesen und du hättest die Kleider an jenem Nachmittag ausgezogen. Alle Kleider. Es sei vielleicht wichtig zu erwähnen, dass normalerweise, dort oben im Norden Schottlands, in den Highlands, nicht gerade viele Menschen anzutreffen seien. Man begegne eigentlich nie jemandem. Vielleicht fahre einmal ein Farmer vorbei. Vielleicht.
Du wissest, du dürfest das alles nicht damit entschuldigen und seist mehr als froh, dass das Gebiet so abgelegen sei, dass die Geschichte nicht in die Zeitungen gekommen sei. Ja, wegen Facebook und Youtube hättest du noch Angst. Du könnest ja nicht wissen, ob die Waisenkinder Smartphones hätten. Auf jeden Fall habest du dich auf der asymmetrischen Gesteinsgruppe ausgestreckt und die Sonne habe nach einer langen Regenphase endlich wieder einmal Haut und Seele aufgewärmt. Du seist eingeschlafen. Tief und fest. Ein Bär oder ein Hund, etwas habe an deinem Rücken geschnüffelt und du seist erschrocken. Ausgerechnet da sei Nebel auf der Hochebene aufgekommen. Du seist gerannt. Du seist gerannt und habest nicht viel sehen können. Plötzlich habest du einige farbige Flächen ausmachen können, habest du Stimmen gehört. Du habest immer noch Angst gehabt. Du habest die Waisenkinder um Hilfe gebeten. Die seien nur erschrocken und hätten geschrien. Du habest auch geschrien. Du seist gegen den Fahnenmast der Boy-Scout Initiative „Kids in Nature“ geprallt und gestolpert, worauf dich einige Männer in Uniform gepackt hatten und dich noch mehr anschrien.
Du schreibst Thomi, es sei nicht besser geworden, als sich der Nebel gehoben hatte. Du habest jetzt geweint und die Typen hätten dir nicht einmal eine Decke gegeben. Es sei ein Skandal, ihr Jahreslager mit dreihundert Waisenkindern auf diese widerliche Weise zu entweihen. Ob sie denn gar keine Hemmungen hätte?
Als die Polizei von Argyll and Bute kam, hättest du immer noch versucht zu erklären, dass du eine Nebelforscherin seist, die im Nebel vor einem Tier geflüchtet sei. Immerhin habest du jetzt eine Decke bekommen. Auf der Polizeiwache in Dunoon seien die Polizisten ganz nett zu dir gewesen. Aber es sei unklar, ob die Boyscouts ihre Anzeige zurückziehen würden. Auf jeden Fall wolle man keine Naturisten in den Highlands. Man sei hier in Schottland und nicht in Schweden oder in Finnland. Du schreibst an Thomi, dass dir nicht bewusst gewesen sei, dass es in Schweden oder in Finnland besonders viele Naturisten gebe. Zu kalt dort, oder?
Drei Monate später schreibt sie nochmals an Thomi. Sie schreibt, sie sei enttäuscht, dass er ihr nie zurückgemailt habe. Sie sei all die Zeit ganz allein gewesen und selbst die Uni habe sie wegen des „Zwischenfalls“ im Stich gelassen. Immerhin habe sie sich in Schottland besser eingelebt.
Sie schreibt, Dunoon sei ganz schön im Sommer und unterdessen würden die Mütter im Dorf die Kinder auch nicht mehr reinrufen, wenn sie vorbeigehe. Sie hätten wohl gemerkt, dass sie doch keine Exhibitionistin sei. Sie habe nicht mehr gewusst, was sie machen sollte. Man habe ihr den Verlust der russischen Wetterstation, die nie mehr gefunden worden sei, vorgeworfen. Und die Traumatisierung der Waisenkinder. Lange war nicht klar gewesen, ob sie angeklagt werde. Immerhin fühle sie sich jetzt etwas besser.
Sie schreibt, die Naturisten hätten von ihrem Fall gehört. Die Naturisten würden ihr helfen. In Finnland sei sie sogar so etwas wie ein Symbol für die Freikörperkultur-Bewegung. Aber ob sie sich als Dank nackt für die Homepage fotografieren lassen solle, wisse sie beim besten Willen noch nicht. Aber auch wenn ihre Karriere als Nebelforscherin vorbei sei, könne sie nachdem, was sie erlebt habe, doch so viel mit Gewissheit sagen: Niemand wisse genau, was zum Vorschein komme, wenn sich der Nebel wieder hebe. Sie schreibt an Thomi, obwohl er mit keinem Wort geantwortet habe, sehe sie jetzt alles klarer.
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