Der Sammler. Eine bebilderte Kurzgeschichte von Olivier Christe
Text und Fotos: Olivier Christe
Basel_28/01/15
François Lona lebt nicht mehr. Am 29. Oktober letzten Jahres (2014) entdeckte ihn ein Jäger nahe der solothurnischen Ortschaft Kleinlützel in seinem Hof. Kühe, so berichtet er, habe er keine entdeckt.
«Heute frage ich mich, da zieht man aufs Land, um all den Irrungen der Menschen zu entkommen, und trifft direkt ins dunkle Herz des Geistes. Es war ein eigenartiger Tag. Ein Reh, dem ich 40 Schrotkugeln in die Seite schoss, lief meinem Hund Jona einfach davon. Ich habe es auch später nicht gefunden. Spurlos weg. Ich sagte mir, Leon, füge dich dem Schicksal, es spielt ein sonderbares Spiel mit dir. Das war schon immer so. Die Irrungen, von denen ich vorher sprach, haben stets mich gefunden. Ich war in diesem sonderbaren Spiel immer der passive Part. Ich sagte also, Leon, pack deine Sachen und geh nach Hause. Genau in diesem Moment aber begann mich Jona zu führen. Ich kann nicht sagen, woran ich jeweils erkenne, dass Jona mich führen will, aber ich folge ihm. Vielleicht, so sagte ich mir, löst sich das Ganze auf ganz und gar plausible Weise, ohne dieses leere Loch zu hinterlassen, das Unverstandenes jeweils nach sich zieht. Jona also führt mich den Wald hoch. Ich darf ihn dann jeweils nicht stoppen, sonst ist er für Wochen unsicher und unterlässt jeden Versuch einer Spur zu folgen. Ich folge ihm also zu einem Hof, weit abseits von dort, wo mich meine sonstigen Züge jeweils hinführen. Jona aber schien sich seiner Sache sicher. Und so habe ich die Leiche von François Lona entdeckt. Sein Ausweis lag auf dem Küchentisch».
François Lona existiert nicht. Dies war das Ergebnis einer Eingabe des Namens in den Computer des Dorfpolizisten von Kleinlützel. In Laufen und Solothurn dasselbe Ergebnis wie in Basel und Bern. Es geschieht immer wieder, dass sich Menschen nach Brüchen in ihrem Leben zurückziehen. Sich nach Inexistenz sehnen. Was auch immer der Grund für Lonas – sofern er denn so hiess – Rückzug war, er hat während seiner Schattenexistenz eine eindrückliche Sammlung angelegt. Eine Sammlung, die Leon als zuerst unverständlich, dann erschreckend und schliesslich nachhaltig verstörend beschreibt. Der Hof stand randvoll mit Gläsern. Meist grüne Einmachgläser, angeschrieben mit Datum. Durchschnittlich fünf bis zehn pro Tag. Darin befand sich – was sich erst allmählich herausgestellt hat – eine Kopie von allem, was Lona seit seinem Verschwinden (nach den Gläsern zu urteilen: 2007) zu sich nahm. Ist die Sammlung durch die blosse Existenz der Inhalte irritierend, führt sie nach dem Verständnis des gemeinsamen Nenners der Präparate zu einer überstürzten Flucht. Denn – das erklärt die Schwierigkeit Leons und des Polizistens diesen gemeinsamen Nenner zu erkennen – die Inhalte legen diesen Schluss nicht nahe.
Es folgt eine Liste der letzten 30 Materialien, welche die letzten 5 Tage seines Lebens beschreiben.
7. – 12. Oktober 2014:
07/10/14 Mais
07/10/14 Krause Glucke
07/10/14 Totentrompete
07/10/14 Brennessel
08/10/14 Mais
08/10/14 Marder
09/10/14 Mais
09/10/14 Löwenzahn
09/10/14 Siebenschläfer
09/10/14 Brennessel
09/10/14 Krause Glucke
09/10/14 Kleiner Fisch
09/10/14 Schwarze Trüffel
09/10/14 Weinbergschnecke
10/10/14 Mais
10/10/14 Wilder Spinat
10/10/14 Blindschleiche
10/10/14 Fledermaus
11/10/14 Mais
11/10/14 Brombeere
11/10/14 Waldschnepfe
11/10/14 Weinbergschnecke
11/10/14 Spitzmaus
11/10/14 Apfel
12/10/14 Mais
12/10/14 Sauerampfer
12/10/14 Totentrompete
12/10/14 Groppe
12/10/14 Groppe
12/10/14 Dohlenkrebs
Die letzten drei Zutaten sind hier abgebildet und erklären gleichzeitig seinen Tod. Alle drei stammen aus der nahen Lüssel. Und alle drei sind sie überzogen mit einem Pilz, der bis dahin in Europa nicht vorkam, in Nordamerika aber dafür bekannt ist, dass er einige Fischarten befallen kann – darunter vor allem den Lachs – und für den Menschen tödlich ist. Die Sammlung befindet sich zurzeit in den Kellerräumen des kantonalen Laboratoriums und, so auf Anfrage, wird bis auf weitere Abklärungen dort bleiben. Besichtigungen sind möglich.
- gesichtet #105: Morgensterne, Obst und ewiges Leben
- Zitat der Woche – Burak Çopur, Wo Minderheiten als Gefahr gelten