TV-Krimis in der Malaise
Diesen Sonntag ermitteln Kommissar Borowski und Sarah Brandt im neuen Kieler Tatort „Der freie Fall“ einen doppelten Todesfall. Einer ist zeitnah, der andere liegt weit zurück – und ist aus dem echten Leben gegriffen. Ganz kurz gefasst, ohne Spannungsbögen vorwegzunehmen (dafür lese man kommenden Sonntag um 21:45 Uhr den Kommentatort), geht es darum, dass ein Autor, Journalist und Unternehmer tot gefunden wird. Was nach Selbstmord aussieht, zieht die Aufmerksamkeit der Mordkommission auf sich. Der Tote ermittelte im Todesfall des deutschen CDU-Politikers Uwe Barschel und hatte Verbindungen ins höchste Polit-Establishment.
Gestaltungstherapie in Sachen Abmurksen
Ein (Selbst-)Mord, der sich ins kollektive Bewusstsein eingebrannt hat, eine Reihung von Zufällen, geheimdienstliche Kabale und eine Spur bis hinauf zum Ministerpräsidenten: diesen Sonntag wird viel unternommen, um dem Tatort plausible Spannung von beklemmender Wucht zu verleihen, die von einem in der Realität verankerten Todesfall herrührt. Zu oft wird ja im Tatort zu geradezu sauglattistischen Abmurksmethoden gegriffen. Da wird in Zimmerbrunnen ertränkt (von zwei verschiedenen, voneinander unabhängig agierenden Mördern) oder von posttraumatischen Belastungsstörungen geplagte Bundeswehr-Afghanistan-Scharfschützen ballern als Friedensengel verkleidete Aktionskünstlerinnen ab.
Da gibt es Politiker, die zwecks Steigerung ihrer Wahlchancen buchstäblich über die eigene Leiche gehen, und überambitionierte Tennis-Wunderkind-Familien, die für den Durchbruch des Sprosses einen Kritiker in Stücke hacken. Der Fantasie der Tatortmacher sind keine Grenzen gesetzt, getreu dem Motto: „Wenn schon tot, dann richtig!“ – Fast fühlt sich der Kommentatort angesichts von so viel Gestaltungstherapie in Sachen Abmurksen bemüssigt, den Kabarettisten César Keiser einmal nicht ganz im Wortlaut zu zitieren:
Vom Sterben und Morden,
von Leichen in Kisten
leben hundert Illustrierte
und Tatort-Besten-Listen!
Der Tatort kommt nun einmal – was nicht immer so war, wie wir noch sehen werden! – nicht mehr ohne Mord aus. Nicht irgendein Mord, sondern bitteschön einen Mord in den ersten fünf, zehn Minuten. Ohne die Möglichkeit, auf den Mord ganz zu verzichten, entfällt ein Distinktionsmerkmal zwischen den verschiedenen Tatortredaktionen, und in der Folge versucht man sich gegenseitig zu übertrumpfen mit immer absurderen Morden. Nur die wenigsten Tatorte beschränken sich auf die essenziell abscheuliche Natur des Tatvorgangs. Mit der beklemmenden Banalität eines Mordes scheint heute – siehe Tatort Münster und Wiesbaden als volkstümliches beziehungsweise intellektualistisches Cabaret! – keiner mehr aufs Sofa zu locken zu sein. Nur in der Verkomplizierung dieses fremdbestimmten Ende eines Menschenlebens scheinen die Redaktionen noch Potenzial zu orten: „Mehr ist mehr, ein Mord nicht genug“ (siehe etwa die Gaga-Balkan-Ballerei neulich in Wien). Selten sind die Fälle, die auf einen Bierdeckel passen, die nach dem Motto verfahren: „Weniger ist mehr, ein Toter bereits zu viel.“
Viel zu viel in nur einem Film
Man legt einfach zu viel in die Filme (gesellschaftsrelevante Problemdiskurse, Wirtschaftsnachrichten, Verschwörungstheorien) – ganz uneingedenk der Tatsache, dass tatsächliche Polizeiarbeit wohl mehr mit dem Abtragen von Aktenstapeln und dem Schlangestehen an Kaffeeautomaten zu tun hat als mit Schiessereien und Verfolgungsjagden. Um ‚plausible’ Ermittler einzuführen, greift man auf den ganzen Klischeefundus von Scheidungen, traumatischen Verlusten, Alkohol und Medikamenten, Geheimdienstkarrieren und dergleichen zurück. Dabei geht vergessen, dass Afghanistan nicht am Bodensee liegt und der einzige wirklich konsequent auf das geheimdienstliche Element bauende Tatort neulich mit einem fulminanten Schlussakkord ad acta gelegt wurde: Angeblich, weil der jedes Mal in eine neue Rolle schlüpfende Landeskriminalamt-Ermittler Cenk Batu dem Publikum zu wenig Wiedererkennungswert geliefert habe. Viele der Strategien, um die Tatorte plausibler zu machen, verfangen also nicht wirklich. Ein Mord aus dem Affekt samt rascher Aufklärung mag dem echten Leben näher kommen, ist jedoch weniger formidabel auf neunzig Minuten einzurichten als irgendein verschwurbelter, mit allerlei Tanzeinlagen des betreffenden Kommissars aufgehübschter Mord im Ex-RAF-Milieu. Die drei bis zehn Tage forciertes Klinkenputzen durch die Kripo, die die Aufklärung eines echten Mordes gemeinhin dauert, sind nun einmal nicht besonders telegen, und für die sonntägliche Primetime erst recht nicht geeignet.
Sachdienliche Hinweise von den „Tatort-Fans“
Da kommt die Ankündigung des neuen Kieler Tatorts wie gerufen: ein wenig Realismus hat schliesslich noch keiner TV-Fiktion geschadet. Den Kommentatort hat die Ankündigung von „Borowski und der freie Fall“ jedenfalls dazu bewogen, sich auf Spurensuche zu begeben. Ich wollte herausfinden, in welchen anderen Tatorten reale Fälle fiktionalisiert wurden. Diese Suche nach solchen ‚echten’ Tatortfällen hätte nicht zu den jetzigen Resultaten geführt, wenn nicht die grossartigen Nutzer der Facebook-Gruppe „Tatort-Fans“ sich zahlreich auf meinen Aufruf hin mit sachdienlichen Hinweisen gemeldet hätten. Ihnen allen sei hiermit gedankt.
Balkon-Monster Backhaus
Einen realen Fall als Grundlage hatte der Münsteraner Tatort „Wolfsstunde„. Hier ging, gleich wie um die Jahrtausendwende in Hannover und Umgebung, ein Serienvergewaltiger um, der seine Opfer in den eigenen Wohnungen überfiel. Weil er über deren Balkone oder Terrassen einzudringen pflegte, wurde er von der BILD-Zeitung, aber auch vom Nachrichtenmagazin STERN (4. Januar 2001), „Balkon-Monster“ genannt. Hans-Joachim Backhaus heisst der letztlich nur durch einen Zufall überführte Serienvergewaltiger. Tagsüber war Backhaus ein unauffälliger Angestellter, freundlich, grosslippig, ein Aufschneider, stets pünktlich und verlässlich, ein dufter Kerl, wie der STERN zu berichten wusste. Nachts aber – zur Wolfsstunde! – mutierte er zum Scheusal. Nach mehreren erfolglosen Entführungsversuchen stieg der 38-jährige Backhaus auf einen perfiden, noch viel brutaleren Plan um. Anstatt zu versuchen, seine Opfer zu entführen, verlegte er sich darauf, sie dort zu treffen, wo man es nie und nimmer erwarten würde, dort, wo man sich am sichersten fühlt. Es ist der ultimative Horror und Alptraum: Bei sich zu Hause sein, dort, wo man sich heimisch fühlt und heimelig, und plötzlich gerät man in die Gewalt eines Einbrechers und Vergewaltigers. Das ist mehr als ein Einbruch, das ist ein alles erschütternder Anschlag auf alles Empfinden von Welt und Sicherheit. Bis man ihn verhaften konnte, brach Backhaus noch bei ungezählten Opfern ein, vergewaltigte und raubte sie aus. Er wurde immer dreister. So gönnte er sich zwischen seinen Verbrechen auch schon mal eine Verschnaufspause, bediente sich am Kühlschrank, schaute TV. Nicht von ungefähr fühlt man sich bei der Beschreibung dieses Täterprofils an den von Lars Eidinger beängstigend brillant verkörperten Mörder aus “Borowski und der stille Gast” erinnert.
Aufgepfefferter ‚echter’ Fall
Die Macher von „Wolfsstunde“ mussten den tatsächlichen Fall jedoch ein wenig aufpfeffern, denn das Balkon-Monster Backhaus war kein Mörder. Um ins Sende-Schema zu passen, wurde das in der eigenen Wohnung vergewaltigte Opfer umgebracht. Bald begann, genau gleich wie im echten Leben, der Boulevard die Angst vor dem Täter zu schüren. Kommissar Thiel setzt sich gegen voreilige Schlüsse, vorgetragen von der rau(-ch-)beinigen Staatsanwältin Klemm wie vom klobrillenbärtigen Herr Professor Doktor Boerne, zur Wehr. Thiel sollte natürlich Recht behalten, Boernes Klügeleien ins Leere zielen und alle zusammen am Ende wie dressierte Seehunde in die Hände klatschen. Der Eindringling in fremde Leben, der es schafft, unbehelligt zu verschwinden, ist eine so unheimliche Figur, dass der für die „Wolfsstunde“ hinzugeschriebene Mord nur noch Beigemüse ist, während das abgrundtief Böse bereits im Überfall begraben liegt.
- The ultimate castle
- Altes Europa