In der Vorhölle des Textes

von Jan Decker

Der erfolgreiche Leipziger Autor Jan Decker bespricht exklusiv für „Zeitnah: Kulturmagazin seit 2012“ Kurt Drawerts kluges, der Anregung ebenso wie der Aufregung volles, überbordend-überforderndes Handbuch: „Schreiben. Vom Leben der Texte“. Sein Fazit – das Schreiben ist auch ohne Drawerts Werk schon kompliziert genug.

In den USA würde ein Handbuch zum Schreiben sehr wahrscheinlich mit folgenden Worten beginnen:

If you want to become a writer, start writing and give your best! But don’t forget to be a tough networker. Writing is as well business as it is arts.

Anders bei den Deutschen, dem Volk der Dichter und Denker. Falls nicht Madame de Staël für das geflügelte Wort zuständig ist, waren es diese selbst. Bei ihnen muss ein Handbuch zum Schreiben ein philosophischer Traktat sein. Und bereits beim Aufschlagen von Kurt Drawerts Handbuch zum Schreiben fällt auf: Die gut 270 Seiten wiegen schwer und sind eng bedruckt.

Ein Buch über das, was Schreiben im radikalen Sinn bedeutet, so die Verlagsankündigung, ist es wirklich geworden. Das stellt man nach 92 Seiten etwas angegriffen fest. Der erste Teil heisst Bedingungen. Durchaus berechtigt, da eine zentrale Bedingung des Schreibens ja eine übergrosse Zähigkeit im Umgang mit dem Alphabet ist. Kurt Drawert führt uns in diesem ersten Teil durch die Vorhölle der strukturalen Psychoanalyse mit ihren Übervätern Freud und Lacan. Er resümiert:

(Das Poetische bleibt unentdeckt; [das Fehlende] entzieht sich, denn es ist das Reale*.)

Über die Aussage dieses Satzes werden wir noch reden. Übrigens ist es diese rhetorische Figur, die Kurt Drawert häufig benutzt, und die von Anfang an leicht stört. Anstatt die Dinge des Schreibens am Drive-In zu servieren, liebt Kurt Drawert die mehrfach gewickelte europäische Textrolle à la Carte. Die durchgehaltene Paragrafenform trägt zu diesem Eindruck bei, auch der elaborierte und manchmal sperrige Ton. So ist dies, vorgezogenes Fazit, ein Handbuch zum Schreiben für Fortgeschrittene geworden.

Der erste Teil suggeriert am stärksten einen philosophischen Traktat in der Nachfolge von Ludwig Wittgenstein. Ganz in diese Höhen schraubt sich der Autor glücklicherweise nicht. Im Folgenden imitiert er sogar an manchen Stellen den Ton der Gelehrsamkeit, um ihn pointiert zu unterlaufen. Im zweiten Teil (Bildungen) wird also endlich das berühmte Nähkästchen geöffnet. Das geht mit der Zunahme erzählter Passagen einher, die besser als irgendeine wissenschaftliche Darstellung etwas vom Abenteuer des Schreibens vermitteln können.

Kommen wir zum Schlüsselsatz des ersten Teils zurück, wobei wir das Fußnoten-* aus optischen Gründen mitgeliefert haben. Der Satz signalisiert orthografische Vorsicht. Denn: Über das Fehlende, das das Reale ist, und das gleichzeitig das Poetische werden kann, will Kurt Drawert dozieren. Hinter dem Freud-Lacan-Komplex mit so einschlägigen Termini wie Muttersprache, Vatersprache, Irrtum und Abwehr lauert die Dramaturgie einer psychologischen Studie – daran ändert auch das geöffnete Nähkästchen nichts. Wir müssen uns von der Tiefe in die Höhe schrauben. Doch: Aus der Vorhölle gibt es keine wirkliche Erlösung. Das ist gar keine schlechte Zustandsbeschreibung des Schreibens. Doch als Vermittlungsleistung ungenügend.

Die Rezeptionsästhetik – warum finden wir manche Figuren sympathisch, andere misslungen? – wird in einer Art europäischen Fehlleistung nicht berührt. Die Schreibblockade ist ein Triebkonflikt, erfahren wir. Nun gut. Aber was sind die Techniken, sie zu überwinden? Die psychologische Aufladung des Schreibprozesses berührt daher auch im zweiten und dritten Teil so kalt wie ein Vatermord-Traum. Dass dieses Handbuch kein halbkluges Anleitungsbuch zum erfolgreichen Schreiben ist, wie Kurt Drawert betont, wird am stärksten im Fazit des ersten Teils deutlich:

Literarische Texte […] haben ein Bewusstsein, das unbewusst bleibt, wie sie über ein Unbewusstes verfügen, das sich mitteilt – sie sind nur als eine fortwährende Durchdringung aller möglichen Bewusstseinslagen zu denken […]. Der literarische Text ist dispositiv im wahrsten Sinne dieser Bezeichnung.

Wenn der Schluss daraus aber nur ist, dass der Schreibende sich dort berühren muss, wo sein Schmerz am tiefsten sitzt, ist das Ergebnis mangelhaft. Weniger aufgrund der impliziten Kränkung – auch die Hollywood-Dramaturgie lehrt diesen schmerzensreichen Abstieg! Der Spiegel, den Kurt Drawert uns vorhält, ist von einer anderen Schärfe. Der Blick hinein samt ödipaler Einschlüsse mag für gestandene Autoren erträglich sein. Angehende Autoren müssen den Blick beschämt abwenden. So wird der Trieb- zu einem pädagogischen Vermittlungskonflikt.

Nehmen wir das Handbuch als Handbuch, finden wir viele brauchbare Hinweise darin. Detailfülle ist stets ein Indiz für schlechte Texte! Volltreffer. Auch wenn Kurt Drawert die Handschrift des Autors mit der digitalen Schrift vergleicht, springt Interessantes heraus: Wann ist ein Text eigentlich fertig, wenn die Schreibhand, die nun eine Tipphand geworden ist, nicht ermüdet? Seine Fragen an das Handwerk sind, keine Frage, stets relevant.

Leider durchziehen auch diese Updates philosophische Setzungen. Die Schönschrift hat in digitalen Zeiten ausgedient. Hat sie das wirklich? Der Hang zu Kategorisierungen gewinnt so nicht selten Spleen-Qualitäten. Hervorhebenswert das Bild des totalen Autors, der selbst dann am Text arbeitet, wenn er Büroklammern sortiert. Paul Feyerabend sprach auf epistemologische Prozesse bezogen von Anything goes. Dass es zum Schreiben wirklich keiner Methode bedarf, mag eine Randthese sein. Roland Barthes stellte in Die Vorbereitung des Romans wenigstens einen gelungenen Ausgleich von Wissenschaftlichkeit und Idiosynkrasie vor. Kurt Drawerts Versuch, eine Definition des Schreibens zu geben, die auch eine Kulturtheorie der Gegenwart ist, gleicht einem deutschen Fesselballon: Unerreichbar schwebend in der Höhe. Ob das polemisch zugespitzt ist oder nicht, der Versuch müsste in jedem Fall stärker erzählt sein.

So versandet der Aufbruch in digitale Welten, der Blick ins reich gefüllte Nähkästchen von Kurt Drawert und das Flanieren durch reizvoll flirrende Oberbegriffe (Lesungen, Schreibschulen, Jurys, Preise) in allzu rigorosen wissenschaftlichen Bestimmungen.

Kurt Drawert. „Schreiben. Vom Leben der Texte“. C.H.BECK, 2012. 288 S. Ca. 30.-. ISBN 978-3-406-63945-6


Jan Decker wurde 1977 in Kassel geboren, und studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er schrieb Theaterstücke mit Uraufführungen am Staatstheater Nürnberg und dem Theater Vorpommern sowie zahlreiche Hörspiele und Features, zuletzt Jaco Pastorius’ Gang durch den Schnee von Rheidt nach Havona (Deutschlandradio Kultur 2011) und Welspaprikas (SWR 2012). 2012 Spreewald-Literatur-Stipendium und Literaturpreis Prenzlauer Berg. Sein Buch Eckermann erschien im selben Jahr mit Zeichnungen von Kay Voigtmann in der Edition Ornament. Er lebt als freier Autor in Leipzig, und schreibt gerade an neuen Hörspielen und Features für verschiedene Sendeanstalten sowie einem Hörspiel-Lehrbuch für den Schulunterricht.


%d Bloggern gefällt das: