Literatur im WWW

Schliessen WWW und Literatur sich aus? Ist nur Literatur, was zwischen zwei Buchdeckel passt? Ist nicht das ganze WWW Text? Soll man im verlagsfreien Zustand lieber in der Schublade als im WWW versauern? Eine polemische Würdigung von Kurt Drawerts klugem, der Anregung ebenso wie der Aufregung vollem Handbuch über das Schreiben.

von Gregor Szyndler

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Kurt Drawerts neues Buch über das Schreiben fordert zu vehementem Widerspruch heraus, wie es nur ein zutiefst werkstattkluges Buch kann.

In meinem ersten Semesters rümpfte ein Literaturwissenschaftsdozent, auf die Möglichkeit der Existenz von Literaturen im Internet angesprochen, die Nase: Es passte gut zu seiner Brille als auch zu seiner umgehängten Wochentag-Tasche. Sein Verdikt klang nach den guten alten Tagen von Netscape, iPod-Clickwheel und Myriaden popeliger Blogs. Nach Einwänden einer Meute von Erstsemestlern (Verfasser eingeschlossen), von denen erst eine kleine Anzahl je von Facebook gehört hatte (Verfasser ausgeschlossen), deutete er immerhin an, dass wohl nicht das Web in toto literaturfeindlich sei. Nicht ganz so konziliant gibt sich der Schriftsteller Kurt Drawert in seinem aktuellen, manchmal etwas gar apodiktisch geratenen Werk „Schreiben. Vom Leben der Texte“ (eine Zeitnah-Kritik dazu gibt es hier).

Im Kapitel „5. Lesung. Schreiben ist physisches Tun ganz unmittelbar: Der entrissene Text. Internetmodus“ reflektiert Kurt Drawert die Implikationen des Internets auf die Literatur. Hier findet sich die folgende, ans Deliktische grenzende üble Nachrede:

„Für unsere Texte, die Literaturtexte sind, bedeutet ein Auftritt im Internet immer Verlust.“

Der Literaturtext sei chancenlos angesichts des digitalen Rauschens: Die Ungeheuerlichkeit der Anmassung wird mit einem eingemeindendem „Unser“ notdürftig übertüncht. Klar lenkt bei der Bildschirmlektüre die Omnipräsenz von Facebook und Co. ab. Doch wird man von einem WWW-Text, der es möglicherweise auch noch nicht einmal als nötig erachtet, mit Hunderten anbiedernder Links um Aufmerksamkeit zu hecheln, möglicherweise weniger abgelenkt, als von einem mittelmässigen Buch in Verbindung mit einer guten Flasche Wein. Nicht genug mit Kurt Drawerts in langsam austrocknenden Beton geschriebenem Vorwurf, der letztlich auf einer zu erarbeitenden Aufmerksamkeitsspanne des mehr oder weniger geneigten Publikums fusst und den man ebenso gut für die Lektüre von Papier wie von Pixeln machen kann. So findet sich in Kurt Drawerts Traktat über das böse WWW und die arme Literatur auch die folgende, mit einem träfen wie süffigen Bonmot camouflierte Polemik: Literarische Publikation im Internet laufe darauf hinaus,

„einen Pianisten der Philharmonie ans Klavier auf den Marktplatz zu zerren: Was immer er spielt, es klingt nach Bockwurst und Bier.“

Wenn man diesen gefällig formulierten, synästhetischen Kalauer auf die Spitze treibt, zeigt sich seine Unhaltbarkeit: Man bringt das Klavier aus der Philharmonie, nie aber – bei adäquater Bedienung! – die Philharmonie aus dem Klavier. Zuvorderst Klaus Drawerts eigene Homepage mit ihrer Vielfalt an Texten beweist es: Zeitnahe Literaturvermittlung scheut nicht das Netz. Es gibt es eine Vielfalt von Online-Angeboten, die Kurt Drawerts Behauptung Hohn sprechen: Man muss ja nicht gleich, wie neulich newsnet.ch, den Dichter vor einen Liveticker setzen (siehe hier, da und dort). Überhaupt muss man Literatur fürs Netz nicht neu erfinden – es genügt, auch in Zeiten der digitalen Flut und Überforderung um eine eigene, digitale Handschrift bemüht zu sein. Einer Generation junger Autorinnen und Autoren, die erfolglos um die Aufmerksamkeit von Gutenbergs Nachfolgern werben, bietet das WWW doch eh längst schon eine valable Alternative zu horrenden Portokosten und schmerzhaften Affronts, die man riskiert, wenn man einigen mit den, ach! wie durchdigitalisierten und den ach! wie literaturfeindlichen Zeiten hadernden Verlegern zu nahe gerät. Warum sich im brieflichen Verkehr mit zaudernden Lektoren den Kopf über neue, verkaufsstrukturierende Adjektive zum Hauptwort „Roman“ zerbrechen, wenn man Literatur doch auch fürs WWW alleine produzieren kann?

Text, Text, Text im WWW

Was Kurt Drawert und Co. wohl zu Literaturparadiesen wie www.zeno.org oder zum „Projekt Gutenberg“ meinen mag? Was ist Drawerts Meinung zu Literaturhaus- und Autorenseiten? Verliert Literatur im Netz? Verliert die Literatur im Netz mehr, als sie im ganz billigen Druck verlieren mag, in lotterigen, lieblos eingerichteten Ausgaben von Fotokopiererqualität? Verliert die Literatur ihren Zauber, ihren Charme, ihre Herausforderungen, wenn man sie ins WWW stellt? Ist neuerdings etwa nicht mehr das komplette Netz Text, Text, Text und nichts als Text?

Was den von Kurt Drawert befürchteten Zerfall der Internet-Literatur in Atome dessen, was die multitaskenden Rezipienten gerade noch wahrnehmen können, betrifft: Besteht nicht jeder Text per se aus Texten, die man mal mehr, mal weniger innig liest? Besteht nicht jeder Text per se aus Texten, die man mal mehr, mal weniger versteht? Wer versteht da was falsch – der, der „Doktor Faustus“ oder die „Parallelgeschichten“ in einem Rutsch liest, oder der, der immer wieder zwischen der Lektüre und dem Grossen Brockhaus hin- und herwechselt? Wer niemals überblätterte, worüber man heute hinwegscrollt, werfe den ersten Kindle!

Was also ist der neuerdings chorisch besungene Verlust literarischer Texte im Netz: Sie wirken doch auch dort, auch dort spannen sie ihre hyperverlinkten Netze auf, auch dort gewinnen literarische Texte ihre Leser, auch dort laden literarische Texte zu Diskursen ein. Es mag sein, dass man im Internet literarischen Texten nicht immer mit gebotener Sorgfalt und Musse begegnet. Einzig, manch einer verschlang die schriftstellerische Arbeit von Jahren schon immer in zwei, drei Stunden, wie gehabt, auf Papier. Wahrscheinlich ging es damals, auf Papier, sogar noch besser und schneller – Daumenkino sei Dank! Wer dem WWW attestiert, zu einer in der Menschheitsgeschichte singulären Verluderung im lebendigen Umgang mit Literatur zu führen, kann ja mal in einer beliebigen öffentlichen Bibliothek schnuppern gehen und schauen, was die Leute, jetzt und schon immer, so alles anstelle von Buchzeichen in Bücher stecken.

Gehobenes Plädoyer fürs Leistungsschutzrecht

Es muss Kurt Drawert, vermute ich, beim „Entrissenen Text“, in dieser Suade gegen den Kontrollverlust des Autors im Netz, um ein gehobenes, aus der Werkstatt gesprochenes Plädoyer für ein aufs WWW erweitertes Leistungsschutzrecht gehen. Hier wäre ihm beizustimmen. Wer schuftet schon tagein, tagaus, wer ringt denn schon gerne bis aufs Blut um Worte, Wörter, Sätze, um sich Ende Monat betreiben zu lassen? Der hoheitliche Verlust des Autors im WWW ist aber kein Untergang des literarischen Abendlands, und man darf ihm auch nicht mit den Rezepten vergangener Tage begegnen. Ist es nicht für literarische Autorinnen und Autoren recht ähnlich wie für die Urheber von Zeitungen und Magazinen: Wer jetzt noch lautstark gegen Google und Co. ins Feld zieht und verlangt, dass seine Inhalte nur noch gegen Entgelt indexiert werden, würde, sobald Google und Co. nur noch mit Anbietern zusammenarbeiten, die ihre Inhalte explizit zur kostenlosen Indexierung freigeben, einen neuen Prozess anreissen: Dieses Mal wegen angeblicher Marginalisierung der eigenen Inhalte, wo zuvor der Vorwurf auf unbefugte Massenverbreitung der eigenen Inhalte lautete (für Literaten und Literatinnen sowieso ein Widerspruch in sich, die reinste Eselei: ‚unbefugte Massenverbreitung’ des eigenen Werks – als wäre die eigene Pultschublade für das eigene Schaffen unbedingt anstrebenswert).

Wer es ernst meint mit Literatur, das zeigen locker die vergangenen paar Hundert Jahre, lässt sich von Kleinigkeiten wie neuen Präsentationsformen nicht vom Griff zum alleinigen Panazeas abhalten. Für wie viele Leserinnen und Leser wirkt ein Hinweis und Probeausschnitt im WWW motivierend, in den Buchladen zu gehen, um ein Buch zu kaufen? Wie viele Leser schreckt ein launiger Facebook-Eintrag des Lieblingsautors von der anvisierten Lektüre ab? Wer liest Peter Nadas in der gerippten 120-Kilobyte-PDF-Version, wenn man es auch als 1.2-Kilogramm-Wälzer haben kann? Wer hat schon einmal eine e-Reader-Datei als Türstopper gebraucht? Es kann im literarischen WWW nicht darum gehen, jeden einzelnen Klick auf seine eigenen Inhalte zu monetarisieren. Ein gewisses Gefühl der geistigen Enteignung war schon immer damit verbunden, einigermassen zündend geordnete Worte – in welchem Medium auch immer! – auf die Welt loszulassen.

WWW-Literatur-Untergangs-Operette

Niemand wird bis heute gezwungen, seine literarischen Texte ins WWW zu stellen. Der Zwang ist nach wie vor ein umgekehrter: Es wird nur als ernsthaft literarisierender Mensch wahrgenommen, wer zwischen zwei Buchdeckel gedruckt wurde. Und was zwischen zwei Buchdeckel gedruckt wurde, muss nun einmal den Weg zu den Leserinnen und Lesern finden – im Gegensatz zur Literatur im WWW, zu welcher die Lesenden auf eigene Faust finden müssen. Die Antwort jedoch, warum man ein Werk kaufen soll, wenn es auch gratis online ist, kann nur der Text selbst, auf- oder zwischenzeilig, geben. Für nicht wenige unpublizierte Autorinnen und Autoren mag dies ein Zusatzaufwand bedeuten; dieser Aufwand sollte lachend in Kauf genommen werden. Er bringt weiter, als wenn man immer neue, wohlfeile Libretti zur WWW-Literatur-Untergangs-Operette schreibt.


Kurt Drawert. “Schreiben. Vom Leben der Texte”. C.H.BECK, 2012. 288 S. Ca. 30.-. ISBN 978-3-406-63945-6


 


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