Eros und Thanatos – Athina Rachel Tsangaris «Attenberg»
Marina und Bella sind zwei ungleiche Freundinnen: Die eine hat noch keine sexuellen Erfahrungen gesammelt (bzw. keine mit anderen Menschen), während die andere schon mit vielen Männern geschlafen hat. Ihre ersten sexuellen Erinnerungen beziehen sich denn auch nicht auf einen Menschen – sondern auf die Tierdokumentationen des Sir David Attenborough (dessen Namen sie zu Attenberg vereinfacht), die Marina (Ariane Labed) schon früh beeindruckt haben. Bella (Evangelia Randou) lebt die menschliche Sexualität ganz unbekümmert. Marinas Vater wiederum ist Architekt, er hält das 20. Jahrhundert für überschätzt – und muss sich nun krankheitshalber auch aus dem 21. Jahrhundert verabschieden. Die abwesende Mutter hat eine Lücke im Leben von Marina und Papa Spyros hinterlassen…und nun ist Spyros dran.
Athina Rachel Tsangari wurde einem breiteren Publikum wohl durch ihren Auftritt in Richard Linklaters «Before Midnight» vorgestellt. In Griechenland gehört sie aber zu den wichtigsten Filmemacherinnen, sie hat zudem die Filme von Yorgos Lanthimos («Dogtooth», «Alpeis») produziert. Vor einigen Jahren war sie in Basel zu Gast, wo sie ihren eigenen Film sowie «Singapore Sling» (Regie: Nikos Nikolaidis) vorgestellt hat – ein Film, der sie wohl ebenso stark beeindruckt hat wie Marina die Tierdokumentationen. Auch Ariane Labed war in «Before Midnight» zu sehen – einem Film, den Athina Rachel Tsangari notabene ebenfalls (mit)produziert hat.
Es ist dem neuen griechischen Film – gerade nach dem Mord des Rappers und Linksaktivisten Pavlos Fyssas aka Killah P – noch ein langes Leben zu wünschen. In einem faschistisch regierten Land allerdings hätten Tsangari, Lanthimos & Co aber zweifellos keine Zukunft. Der Einfluss der Kirche war dabei in Griechenland immer sehr stark: «Attenberg» thematisiert nämlich u.a. auch das Kremationsverbot in Griechenland. Vielleicht ist Marinas spät erwachende Sexualität auch ein Symbol für ein von Klientelismus und kirchlicher Macht gelähmtes Land. Für ein Land, das – wie Spyros beklagt – direkt von einer rein landwirtschaftlichen Kultur ins (post)industrielle Zeitalter geworfen wurde. Da verwundert es auch nicht, dass «Attenberg» in einem grauen Industriekaff an der Küste spielt. Griechenlands aktuelle Filmschaffende wie Lanthimos oder Tsangari verblüffen immer wieder mit ihren abgründigen Werken – Weltkino vom Feinsten.
«Attenberg» Griechenland 2010. Regie: Athina Rachel Tsangari. Mit Ariane Labed, Evangelia Randou, Vangelis Mourikis u.a. Erhältlich bei Trigon Film. (Online-Kino).
- Fragebuch Oktober 2013 – Dieter Zwicky
- DWVEBDMSBHBEBDS #34