Die Immanenz des Lebens – Juho Kuosmanens «Compartment No. 6»
In der Literaturverfilmung lernt eine finnische Studentin ein Russland kennen, das sie so noch nicht kennt – und findet zwar keine Petroglyphen, aber dafür etwas anderes: neue Perspektiven.
Ende 90er-Jahre. Die finnische Studentin Laura lebt in Russland. Ihre Freundin Irina ist eine Literaturwissenschaftlerin, die als Professorin arbeitet. Eigentlich wollten sie zusammen die Petroglyphen in Murmansk untersuchen; doch aus beruflichen Gründen musste die Russin absagen. Nun macht sich die Finnin alleine im Zug auf in Richtung Norden.
Im «kupe nomer 6» trifft sie einen besoffenen jungen Russen namens Ljocha, der sie mit mehr als nur anzüglichen Sprüchen belästigt. War es vielleicht doch keine gute Idee, sich alleine auf den Weg zu machen?
Laura lernt im Zug, auf der Durchreise und schliesslich in Murmansk ein Russland kennen, dass sie so wohl nicht erwartet hat – nicht zuletzt, weil sie ja tatsächlich zusammen mit ihrer Freundin ganz andere Erfahrungen gemacht hätte und tatsächlich ein anderes Russland kennengelernt hätte.
Was diese Literaturverfilmung also nicht zuletzt zeigt, ist, wie sehr sich die Immanenz des Lebens, die Erfahrungen selbst verändern durch die Menschen, mit denen man unterwegs ist.
Wahrscheinlich hat jede Kinogängerin diese Erfahrung schon gemacht: Wenn ich den Film mit X schaue, ist es ein anderer Film. Wenn ich ihn mit Y schaue, ist die Erfahrung eine ganz andere, vielleicht mag Y den Film gar nicht, während X begeistert war …
Dasselbe stimmt auch für das Leben – nur noch stärker. Juho Kuosmanens Verfilmung eines Buchs von Rosa Liksom (Drehbuch: Andris Feldmanis und Juho Kuosmanen; russische Dialoge von Ljuba Mulmenko) ist witzig, gewitzt und immer wieder überraschend. Wie das Leben selbst …
Ljocha ist eine Koseform von Aleksej; der kriegerische Name Alexander könnte nicht weiter entfernt sein von Irina, dem Namen der Freundin, der auf dem griechischen Wort für Frieden basiert. Manchmal ist aber eben nicht alles so, wie es scheint …
Dass sich Ljocha von Anfang an mit dem Namen Ljocha vorstellt, impliziert gerade im russischen Kontext eine Nähe, die an sich sicher nicht gegeben ist bei einem wildfremden Menschen. Aber dieser wilde Mensch ist eben doch im Grunde genommen ein zartes Wesen, auf der Suche nach Liebe.
Eben nicht nur der kriegerische Aleksandr, sondern auch der kleine Ljocha. Trotzdem ist «Hytti nro 6» – so der finnische Originaltitel – sicherlich kein Liebesfilm, sondern eher ein Lebensfilm – ein Film über das Leben und seine Wandelbarkeit, ganz ohne Kitsch.
«Hytti nro 6», Finnland/Russland/Estland/Deutschland 2021. Regie: Juho Kuosmanen. Mit Yuriy Borisov, Seidi Haarla, Yuliya Aug, Dinara Drukarova u. a. Deutschschweizer Kinostart am 3. März 2022.
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