Suche nach den Wurzeln – Blandine Lenoirs «Juliette au printemps» und Arnaud des Pallières‘ «Captives»
Die Kinderbuchillustratorin Juliette wollte eigentlich zwei unbeschwerte Wochen bei ihrer Familie in der Provinz verbringen. Was sie aber erwartet, ist etwas ganz anderes …
Auch in «Captives» ist die Protagonistin auf der Suche nach ihren Wurzeln – sie lässt sich freiwillig in eine Klinik einweisen, was nicht ganz ungefährlich ist …
Juliette ist Kinderbuchillustratorin in Paris. Bei ihrer Familie – ihrer quirligen Schwester, ihrer künstlerisch tätigen Mutter, ihrem getrennten Vater – erwartet sie eigentlich unbeschwerte Wochen in der Provinz. Doch weit gefehlt: Ihre Mutter provoziert mit ihrer Kunst, der Vater ist griesgrämig wie immer und ihre verheiratete Schwester hat eine Affäre. Was sie aber nicht ahnt: Sie weiss längst nicht alles über die Geschichte ihrer Familie …
«Juliette au printemps» gleicht etwas Catherine Corsinis «Le retour»: Es ist eine Reise in die alte Heimat, mehr aber noch ein Erkennen von verdrängten oder unbekannten Facts über die eigene Familie. «Juliette au printemps» ist aber eher komödiantisch unterwegs, vor allem die Affäre der Schwester Marylou wird mit viel Humor gezeigt. Jean-Pierre Darroussin in einer Paraderolle als Vater ist genüsslich griesgrämig unterwegs. Die Familie heisst Tarlidch; wahrscheinlich ein erfundener Name. Dies ist gerade aus rechtlichen Gründen empfehlenswert, schliesslich will man niemandem zu nahe treten – für «Family Plot» hat Hitchcock für alle Namen auf den Grabsteinen spezielle Namen erfunden, die keinen real existierenden Personen zugeordnet werden können. Der Film von Regisseurin Blandine Lenoir («Aurore» und «Annie Colère») basiert auf einer Graphic Novel von Camille Jourdi; das Drehbuch hat Lenoir zusammen mit Maud Ameline und Camille Jourdi geschrieben. Sehenswert!
Auch in «Captives», dem neuen Film von Arnaud des Pallières («Michael Kohlhaas»), geht es um ein Geheimnis: um das Verschwinden der eigenen Mutter. Fanni Devander lässt sich deshalb 1894 freiwillig in das Pariser Hôpital de la Salpêtrière einweisen; ein Heim, in dem nur Frauen leben – ein «Irrenhaus». Dort vermutet sie ihre Mutter. Sie lernt den harten Alltag in dieser fragwürdigen Institution kennen, freundet sich aber auch mit vielen anderen Insassinnen an.
Arnaud des Pallières hat eine Vorliebe für historische Stoffe, die soziale Ungleichheiten aufzeigen; siehe etwa auch seine Verfilmung von «Michael Kohlhaas» mit Mads Mikkelsen. Hier wie dort reisen wir mit de Pallières und Ko-Autorin Christelle Bertheves in eine Zeit, in der Rechtlosigkeit für breite Bevölkerungsschichten – die Mehrheit – die Regel war. Vielleicht auch ein Hinweis darauf, dass viele Ungleichheiten eben doch auch heute noch bestehen. Aber auch eine Erinnerung daran, dass sich vieles verbessert, vieles verändert hat. Auch die härteste Kritikerin des Patriarchats würde 2024 wohl nicht behaupten, dass Frauen heute in Frankreich oder der Schweiz so rechtlos sind wie im vorletzten Jahrhundert.
Gerade die Diskussion um das Namensrecht zeigt aber, dass heute eben doch vieles ist wie früher: Die meisten Frauen nehmen den Namen des Mannes an, auch heute noch. Viele Männer machen dies geradezu zur Bedingung bei der Heirat. Vielleicht sind es also die Männer, die sich eben noch nicht genug verändert haben. Zurück aber zu «Captives»: Es ist ein spannender Film, geradliniger als etwa «Michael Kohlhaas», was aber nicht schlecht sein muss. Nicht zuletzt überzeugen auch die Schauspielerinnen mit sehr soliden Leistungen – die Zuschauerin fiebert mit.
«Juliette au printemps». Frankreich 2024. Regie: Blandine Lenoir. Mit Izïa Higelin, Jean-Pierre Darroussin, Sophie Guillermin, Salif Cissé, Noémie Lvovsky u. a. Deutschschweizer Kinostart am 18. Juli 2024.
«Captives». Frankreich 2024. Regie: Arnaud des Pallières. Mit Mélanie Thierry, Yolande Moreau, Josiane Balasko, Elina Löwensohn u. a. Deutschschweizer Kinostart am 8. August 2024.
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