gesichtet #27: Die Stadtnomaden vom Klybeckquai
Von Michel Schultheiss
Rangierloks scheppern im Hintergrund, Rheintanker tuckern vorbei, und Lastwagen drehen brummend ihre Runden. Alles, was hier rollt und rumort, hat kürzlich einen einiges leiseren Zuzug erhalten: Zwischen dem knallgelben Gondrand-Gebäude, klotzigen grauen Tanklagern und den Bahngeleisen tut sich seit ein paar Tagen eine kleine Oase auf. Eine Luftballon-Girlande flattert in der Luft, ein Kind spielt zwischen bunten Wagen und allerlei Zusammengezimmertem. Auf dem ehemaligen Migrol-Areal am Basler Klybeckquai haben sich seit gut einer Woche die (wohl manchen aus den Medien geläufigen) «Wagen-Leute» niedergelassen. Dies ist aber nur ein Teil der Wahrheit: Nicht nur die Bewohner, sondern auch mehrere Dutzend weitere Engagierte sind am Aufbau einer zwischenzeitlichen Bleibe beteiligt. Ein Spielplatz für die Quartierbevölkerung und eine Boulebahn sind im Entstehen begriffen. Die «Hafescharte-Bar», eine Volksküche sowie eine Bühne (wohl eher für kleinere Konzerte als für Monster-Partys gedacht) befinden sich im Aufbau. Es soll eine Art Dorfplatz kreiert werden, wie einer der neuen Bewohner meint. «Das Ganze wird als Wagenplatz wahrgenommen, soll aber eher unter dem Titel Hafenöffnung laufen», findet der junge Mann.

Eine «temporäre autonome Zone» und ein Schritt zur Öffnung des Hafengebiets? Der Wagenplatz an der Uferstrasse mischt die Karten vielleicht neu (Foto: smi).
Schon geistern Geschichten durch die Medien, die wohl eher ins Reich der Mythen gehören. So etwa, dass Exilanten aus kürzlich abgerissenen Villa Rosenau das Areal bevölkern. Oder auch Binz-Besetzer aus Zürich. Man kenne sich zwar untereinander, doch lediglich zwei Transparente hätten die Medienvertreter zu solchen Feststellungen verleitet, wie der besagte Bewohner erklärt. Zudem hätten die «Rosenauer» andere Wohnpräferenzen als die Wagenleute.
Bekanntlich haben die Schweizerischen Rheinhäfen als Grundeigentümer haben bis anhin keine Anzeige eingereicht, die Besetzer sind auch bereit, sich mit ihnen an einen Tisch zu setzen, und die Kunstmesse Scope soll wie geplant im oberen Teil des Areals stattfinden. Dennoch wird in den Kommentarspalten der Zeitungen gezürnt und geschäumt. Schnell fahren gewisse Schreiber mit schwerem Geschütz auf und teilen vorschnell Egoismus-, Sozialromantiker- und Schmarotzervorwürfe aus. Zudem werden die Wagenbewohner stets als homogene Masse mit einer einheitlichen Ideologie wahrgenommen, was wohl kaum zutrifft. Dabei dürfte es sich in erster Linie um Ferndiagnosen handeln: Bisher ist noch nie ein Schimpfender persönlich vorbeigekommen, um sich ein Bild vom Wagenplatz zu machen und seine Kritik vor Ort anzubringen, wie man dem Fotokolumnisten am Klybeckquai bestätigt.
Warum also die Missgunst gegenüber unbekannten Leuten, welche sich für ein Domizil auf vier Rädern entschieden haben? «Man stellt halt schon gewisse Dinge infrage – das Eigentum ist für manche Leute heilig», erklärt der Bewohner. «Wir wollen aber niemanden berauben», meint der besagte Bewohner. «Die Stadt gehört uns allen, und solange Flächen leer bleiben, sollen sie auch genutzt werden können», findet er. Man wolle in einer Gemeinschaft wohnen – ein Bedürfnis, das durch die Architektur limitiert sei. Da bieten sich die Wagen als Wohnform an.
Der städtische Nomade will sich nicht als Besetzer, sondern als «Hafenöffner» verstehen, wie er schmunzelnd meint. Es gehe darum, eine «Zwischennutzung von unten» zu lancieren. Dies sei auch dringend nötig, wenn von oben einfach nichts geschieht. Brachliegende Flächen sollten genutzt werden, auch von der benachbarten Quartierbevölkerung, und man sei auch bereit, weiterzuziehen. Er sei auch nicht grundsätzlich gegen Stadtentwicklung, doch es müsse Platz für Nischen haben.
Das von ihm angesprochene Thema ist nicht neu und mittlerweile auch etwas überstrapaziert. Das Wort «Freiraum» ist mittlerweile zu einem Plastikbegriff geworden. Viele verwenden ihn, doch alle verstehen etwas anderes darunter. Googelt man ihn, landet man auf einer Feng-Shui-Beratungsseite der «Hüsler und Frei Räume AG». Dieses Suchergebnis ist vielleicht symptomatisch für die Vielzahl an Verwendungen des Begriffs. Manche Politiker verwenden ihn in anbiedernd-fürsorglicher Manier, während die «Law and order»-Fraktion ihn als Bezeichnung für einen rechtsfreien Raum verteufelt. Wiederum andere verwenden ihn als Synonym für Massen-Bierkonsum mit pseudopolitischem Inhalt, während ehemalige Aktivisten aus den Achtzigerjahren vor der Dekadenz des Freiraumkonzepts warnen. Der vorhin zitierte Wagenbewohner mag deshalb auch nicht von Freiräumen reden und bevorzugt das Wort «temporäre autonome Zone» – eine Defintion, die aber keineswegs alle seine Kollegen teilen, wie er betont. Er verstehe darunter Selbstorganisation und Eigenverantwortung. Letzteres aber nicht im Sinne von rechtsbürgerlichen Politikern, die zwar ebenfalls viel von Eigenverantwortung sprächen, aber letztlich alles regulieren wollen, was sich in der Öffentlichkeit abspielt.
Welche Bedeutung kann nun Projekten wie diesem zukommen? Wohl ist die Aktion am Klybeckquai ein Wink mit dem Zaunpfahl angesichts der schleppend vorankommenden oder gar verhinderten Zwischennutzungsprojekte. Und sie kann dazu beitragen, das Konzept der «Öffentlichkeit» neu zu definieren. Der Wunsch nach Gegenentwürfen zu vom Konsumzwang und Kontrolle geprägten Räumen ist vorhanden. Auch wenn dies manchen als Luxusproblem erscheinen mag und die Sehnsucht nach dem einfachen Leben und dem Nomadentum vielleicht erst gerade durch zu viel Ordnung und Wohlstand geweckt wird, sollte man solche Projekte nicht einfach reflexartig in eine Pippi Langstrumpfsche Fantasiewelt verbannen. Dass sich autonome Zonen früher oder später schwerlich der marktwirtschaftlichen Dynamik entziehen können und daher keine heile Welt darstellen, ist dabei nicht der Punkt. Vielmehr impliziert dieses Streben, ob es nun eine Utopie bleibt oder nicht, bereits eine Kritik an gewissen Normen. Damit lassen sich vielleicht auch die harschen Leserreaktionen erklären: Bereits das Andenken eines solchen Gegenentwurfs ist für manche unangenehm und somit köpft man lieber den Übermittler der schlechten Nachricht – in diesem Fall die Wagenleute. Ob solche temporäre autonome Räume Sand im Getriebe der vieldiskutierten Gentrifizierungsdynamik sind, kann hier nicht beantwortet werden. Schliesslich gibt es auch Stimmen, die darauf hinweisen, dass lustigerweise eben gerade Besetzungen und ungeplante Zwischennutzungen die Gentrifizierung vorantreiben, da sie ungewollt den Marktwert der besagten Areale erhöhen. Wie dem auch sei: Manchmal entzieht sich die Stadtentwicklung der vollumfänglichen Planung und es entstehen – wenn auch oft vorübergehend – interessante Nischen, die wiederum für neue Impulse sorgen. Und in welche Richtung diese dann verlaufen, ahnen weder Stadtentwickler noch Wagenleute – und nicht einmal allwissende Kommentarschreiber.
- Aleph oder Hakenkreuz
- «Zeitnah» ins «kult.kino atelier»!