Das zweideutige Bild eines halben Herzens – Rezension zu Lena Gorelik

In Lena Goreliks Roman «Die Listensammlerin» geht es um die beruhigende Wirkung des Listenschreibens.

978-3-87134-606-4

«Was Grischa und seine Nichte Sofia eint, ist ihre Unangepasstheit, ihre unreflektierte Wut auf das Leben, die sich eruptiv entlädt, und ihre Listen-Leidenschaft. Raffiniert lässt Gorelik diese Parallelen im ständigen Wechsel der Zeitebenen immer deutlicher hervortreten.» (zVg)

Von Julia Stephan

Das Schreiben von Listen gibt Sofia Kraft und Ruhe «wie anderen das Gebet, Alkohol, Drogen, ein Therapeut, die Zigaretten und das Shoppen». Seit ihrer Jugend findet die Mutter eines herzkranken Kindes nur im Herunterschreiben thematisch geordneter Listen ihren Seelenfrieden. Die Listen führt sie pedantisch. Sie tragen Titel wie «Wenn wir ein Hollywoodfilm wären …» oder «Das sowjetische Erbe meiner Mutter» und bündeln Alltagsbeobachtungen, Erinnerungsfetzen und Träume, die Sofia in der beengenden Gegenwart nicht leben kann. Zusammenhängende Geschichten gelingen der Autorin schon lange nicht mehr. Seit der Geburt ihrer Tochter, deren halbes Herz in wenigen Tagen zum dritten Mal operiert wird, steht Sofia und ihrem Lebenspartner Flox die Angst vor dem Herzstillstand ins Gesicht geschrieben – und Sofias eigenes Leben still.

Wurzeln, immer neu durchgespielt

Lena Gorelik, 1981 in Russland geboren, und wie ihre Protagonistin Sofia früh mit Familie nach Deutschland ausgewandert, ergründet seit ihrem viel beachteten Debüt «Meine weissen Nächte» (2004) ihre jüdisch-russischen Wurzeln in immer neuen Spielarten – zuletzt mit einem ironischen Brief an ihren eigenen Sohn («Lieber Mischa, du bist ein Jude», 2011). Die Journalistin, Übersetzerin und Historikerin ist in Deutschland mittlerweile zu einer wichtigen Chronistin russisch-jüdischen Lebens avanciert. 2009 wurde ihr der Förderbeitrag des Friedrich-Hölderlin-Preises zugesprochen.
Zu einer russischen Familiengeschichte verwachsen auch in «Die Listensammlerin» zwei zunächst unabhängig scheinende Einzelschicksale.

Während Sofia die Tage bis zur Herz-OP zählt und ihre demente Grossmutter im Heim besucht, erfährt der Leser in kapitelweisen Rückblenden von ihrem verstorbenen Onkel. Dieser Grischa, ein charismatischer Fabulierer und Draufgänger, steht für alles, was der grüblerischen Sofia abhandengekommen ist: Angstfrei und unbeschwert bewegt er sich durch die sowjetische Nachkriegsgesellschaft, deren Regeln er nicht versteht. In der Gedenkminute zu Stalins Tod kitzelt er seine Schulkameraden mit Grimassen, im Kunstunterricht zeichnet er Chruschtschow- und Lenin-Karikaturen gegen den Strich des sozialistischen Realismus. 1960 knüpft das Sorgenkind der Familie an der Beerdigung des Literaten Boris Pasternak Kontakte zur sowjetischen Untergrundbewegung und entdeckt seine Homosexualität. Als Grischa mit dem Mann seiner Schwester Anastasia, der sich bald als Sofias verstorbener Vater herausstellen wird, in eine sowjetische Irrenanstalt einbricht, werden beide verhaftet. Für ihren Versuch, die grausigen Zustände in der Anstalt mit dem Fotoapparat zu dokumentieren, landen sie im Arbeitslager. Ein Todesurteil für beide – und eine Katastrophe für die Familie. Sofias Mutter Anastasia lässt sich mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Tochter Sofia von einem deutschen Tolstoj-Experten «erretten», wie sie ihrer erwachsenen Tochter später in unbeholfenem Deutsch erzählt. Auch dieses Mutter-Deutsch, das die neue Heimat Deutschland verklärt und die Vergangenheit verschleiert, landet auf Sofias Listen.

Die Vergangenheit, die entzündete Wunde

Was Grischa und seine Nichte Sofia eint, ist ihre Unangepasstheit, ihre unreflektierte Wut auf das Leben, die sich eruptiv entlädt, und ihre Listen-Leidenschaft. Raffiniert lässt Gorelik diese Parallelen im ständigen Wechsel der Zeitebenen immer deutlicher hervortreten. In jedem Kapitel blickt der Leser tiefer in die Wunden der Vergangenheit, die sich in der Gegenwart an familiären Reibereien neu entzünden. Als Sofias demente Grossmutter aus dem Heim wegläuft und Sofia Grischas kyrillische Listen findet, erkennt Sofia in Grischa das fehlende Puzzleteil zu ihrer Identität.
Was Gorelik genial in das zweideutige Bild des halben Herzens gefasst hat, fällt am Ende des Romans in einer Nacht zusammen: Lebensabschied und Lebenshoffnung. Sofias Grossmutter wird stark unterkühlt ins Krankenhaus eingeliefert und stirbt im Morgengrauen in ihrem Krankenbett, während die herzkranke Anna für die lebensverlängernde Operation vorbereitet wird. Im Krankenhausflur findet die Familie zusammen. Und für Sofia fügen sich die biografischen Fakten auf ihren Listen endlich zu einer ganzen Geschichte.

Lena Gorelik Die Listensammlerin. Rowohlt 2013. 352 S., Fr. 29.90.

Stichworte:

%d Bloggern gefällt das: