gesichtet #125: Theobald Baerwarts Gässli – eine Strasse, die es eigentlich gar nicht gibt

Von Michel Schultheiss

Ein unscheinbarer, aber befahrbarer Durchgang verbindet die Matten- mit der Isteinerstrasse. Von einer eigentlichen Strasse zu reden, wäre aber übertrieben: Viel mehr führen zwei Betonschläuche in einen Innenhof, der von Parkplätzen bestimmt ist. Immerhin ist hier nicht nur alles grau: Die beiden Passagen sind mit Wandzeitungen und Politplakaten zugepflastert. Graffiti gibt’s nur dort selbst hoch oben auf dem Flachdach, welches – wie auch immer das möglich war – rot eingefärbt wurde.

Baerwarts Gässli Einfahrt Mattenstrasse

Der Schlund eines Hinterhofes mit Parkplätzen: Der Eingang zu Theobald Baerwarts Gässli von der Mattenstrasse aus. 1957 sollen es Freunde des Dichter inoffiziell beschildert haben (Foto: smi).

Eine Beschilderung sowie eine Gedenktafel bei der Isteinerstrasse weisen darauf hin, dass es sich nicht um irgendeine Einfahrt handelt: Mit Theobald Baerwarts Gässli im Rosentalquartier wird der Mundartdichter, welcher von 1872 bis 1942 gelebt hat, geehrt. Eigentlich ist es ein weiteres Kuriosum unter den Basler Strassen: Man findet es auf keiner Karte und auch Google Maps kann es trotz der scheinbaren Allmacht nicht orten.

Baerwarts Gässli Strassenschild Mattenstrasse

Ein «Piraten-Strassenschild» als Verneigung vor dem Mundart-Schriftsteller (Foto: smi).

Nun gibt es in Basel bekanntlich mehrere Strassen, die schwer zu finden sind: So ist etwa – wie bereits erklärt – das Gansgässlein amtlich benannt, doch nicht angeschrieben und auch nicht öffentlich zugänglich. Das Ueli-Gässlein gibt’s offiziell auch, doch angeblich wird ständig das Strassenschild geklaut. Dann gibt’s noch Orte wie die Sarnerstrasse und das Johann Jakob Spreng-Gässlein, die eigentlich normaler Wege sind, nachts aber verschwinden, da sie verriegelt werden. Dann gibt’s noch Erschliessungswege mit mittelalterlichen Wurzeln (wie etwa das Andreasgässlein), die von aussen überhaupt nicht sichtbar, geschweige denn begehbar sind.

Baerwart Gedenktafel

Eine Gedenktafel bei der Isteinerstrasse. Gleich um die Ecke, an der Maulbeerstrasse, hat Baerwart seine Kindheit verbracht (Foto: smi).

Bei Theobald Baerwarts Gässlein liegt wiederum ein anderer Fall vor: Obschon nicht amtlich benannt, so ist es doch zumindest auf der poetischen Landkarte eingetragen. Es soll an einen bestimmten Text des Schriftstellers erinnern. Der gebürtige Riehener wohnte von 1877-1891 gleich um die Ecke – an der heutigen Maulbeerstrasse 11, damals noch als «Mulbeeriwäg» bekannt. Baerwart spricht in den gesammelten Werken «Im diefschte Glaibasel» vom «wilde Viertel». Diese Bezeichnung war aber positiv konnotiert – schliesslich brachte Baerwart damit den Stolz auf das Kleinbasel zum Ausdruck. Er spricht von einem Stadtteil, wo der Rummel losgeht, wenn das Grossbasel bereits schläft und «Gottsaggerstilli» herrscht; wo es nicht nur in den Beizen «grob, aber ehrlich» zugeht.

Baerwarts Gässli Dach

Ein Farbklecks im grauen Innenhof (Foto: smi).

Nun ist die besagte Gasse eine Hommage an eben jene Kleinbasler Kindheitserinnerungen des Schriftstellers. Der Text «´s Gässli» aus dem Erzählband «Plaudereie us der Juged» diente als Inspiration für das Piraten-Strassenschild. In diesem Text beschreibt Baerwart eine Gasse, die aber nicht genauer benannt und verortet ist:

Mer hän em ´s «Gässli» gsait wenn’s au kai Gässli gsi isch, wie me sich’s eppe vorstellt, mit durmhoche Hyser uff baide Syte, mit ere holperige Bsetzig und mit eme wunzige Räschtli Himmel obenyne. Im Gegedail! ´s sin, usser ere Kaigelbahn am ainte-n-Aend und eme Basler Wulggegratzer am andere, numme-n-e halb Dotzed aisteggigi Hinderhysli dra gstande, und zwische däne-n-oder ihne gegeniber hän Lila, Holder, Goldräge, faltsche Jasmin und anderi Strycher ins Gässli gluegt […]

Baerwarts Gässli Einfahrt Isteinerstrasse

Von der Isteinerstrasse sieht der Weg so aus. Ob es noch etwas mit dem Gässli aus Baerwarts Jugenderinnerungen zu tun hat? (Foto: smi)

Der üppig bewachsene Weg soll sich zwischen Mietskasernen, einer Kegelbahn, einer Backstube sowie ein paar Werkstätten hindurchgeschlängelt haben. Laut Baerwart hat es eine Brücke von der «Grossstadt» über die «d’Glaistadt» bis aufs Land geschlagen. Rustikal muss zugegangen sein gegen Ende des 19. Jahrhunderts: In dieser Gasse tummelten sich auch noch Hühner und Schweine. Der Weg ist dem Erzähler daher besonders in Erinnerung geblieben, da das Gässli kam je aufgesucht wurde – ein idealer Spielplatz also, ohne lästige Kontrolle durch Erwachsene. Nur ein paar wenige Male pro Jahr soll der Landjäger vorbeispaziert sein. Heimliches Rauchen und «Glepfe mit de Gaissle» war also auf diesem verborgenen Trampelpfad möglich.

Baerwarts Gässli Graffiti

«Wildes Viertel»: Graffitipräsenz in Baerwarts Gässli (Foto: smi).

Wer auch immer den Durchgang benannt hat und ob das Gässli auch tatsächlich dort gelegen hat: Die Erzählung Baerwarts wurde damit anno 1957 von seinen Freunden an einem konkreten Ort in Basel festgemacht. Wie Michael Raith im Riehener Jahrbuch von 2001 festhält, führt der Servitutsweg an der Rückseite von Baerwarts Elternhaus vorbei. Eine offizielle Strasse, die seinen Namen trägt, gibt’s jedoch nicht. Immerhin ist Schulhaus im Kleinbasel seit 1968 nach ihm benannt. Tatsächlich gab es aber auch einmal Pläne für eine Strasse, die seinen Namen tragen sollte. Laut Raith war für eine in den Achtzigerjahren gescheiterte Überbauung auf dem Bäumlihofareal eine Baerwart-Strasse sowie ein gleichnamiges Weglein vorgesehen.

Baerwarts Gässli Plakate

Foto: smi

Hinterhofdurchgänge, wie sie schon Baerwart beschrieb, sind auch heute noch beliebt: Der Cedernweg, das Castellioweglein, das Trillengässlein, das Mülhauserweglein und die namenlose Treppe bei der Johanniterbrücke oder die Unterführung beim Hafen sind ein Tummelplätze für Wildplakatierer, Graffitikünstler und Streetartisten, während anderer berüchtigte Orte wie das Steinenbachgässlein eine Politur erhalten haben. Die Kippen und Geisseln aus Baerwarts Jugend sind dort nicht mehr das Thema, doch auch heute noch haben die unbeachteten Gässli der Stadt offensichtlich nichts an ihrer Faszination eingebüsst. Wie man an den Spuren sieht, dienen sie auch heute noch als Schlupfwinkel für heimliche Versammlungen und Nachtbubenaktionen – sowohl im teilweise nach wie vor «wilde Viertel» wie auch anderswo.

Baerwarts Gässli Katze

Foto: smi

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