gesichtet #84: Die verschliessbare Strasse
Von Michel Schultheiss
Vielleicht handelt es sich um ein Relikt aus den Zeiten der alten Basler Stadttore: Diese Strasse macht hier jeweils um zehn Uhr abends dicht. In alten Zeiten leerten sich kurz vor Torschluss die Wirtshäuser. Hier dürfte das nicht so schnell passieren – es gibt zum Glück noch andere Möglichkeiten, um vom Helvetiaplatz zur Grienstrasse zu gelangen.
Wie einst bei den Stadttoren wird auch hier nach Einbruch der Dämmerung dichtgemacht: Der Durchgang bei der kurzen Sarnerstrasse (Foto: smi).
Jawohl, was hier jeweils zu nächtlicher Stunde geschlossen wird, nennt sich auch tatsächlich Strasse. Es wird nicht etwa als «Weglein» oder «Gässli» bezeichnet: Die kleine Schleuse durch die Reihenhäuser gehört zur Sarnerstrasse. Man findet sie in einer Gegend in Basel, wo alles irgendwie eidgenössisch klingt: St.Galler-Ring, Bündner-, Obwaldner-, Appenzeller- oder Näfelserstrasse und Helvetiaplatz. Hier kommt also nun ein Stadtteil an die Reihe, der bisher noch nie in dieser Rubrik vertreten war: Das Iselin – ein Quartier am westlichen Stadtrand vom Grossbasel.
Die besagte Fussgängerpassage führt über eine Privatparzelle und ist nur tagsüber als öffentlicher Fussweg begehbar – so etwas sieht man nicht alle Tage. Als weiteres Beispiel wäre höchstens noch das Ueli-Gässlein im Kleinbasel zu nennen, welches ebenfalls verriegelt werden kann. Allerdings wird dort nirgends auf einen Torschluss hingewiesen. Die Sarnerstrasse tanzt auch sonst aus der Reihe: Der blitzblanke Zustand des Durchgangs lässt vermuten, dass sich dort keine Nachtbuben rumtreiben können. Doch seien wir mal ehrlich: Wer käme überhaupt auf die Idee, mitten in der Nacht an die Sarnerstrasse zu pilgern? Jedenfalls unterscheidet sich die Fussgängerpassage deutlich von ihren Artgenossen in Basel – man denke etwa an das Mülhauserweglein, das nicht selten als Sperrgutablage dient, an das Theatergässlein mit den Kopfüber-Plakaten oder den düsteren Cedernweg.
Vielleicht schreckt das alte Schild die Leute noch ab, sich hier auszutoben. Ein Verbotsschild aus dem Jahr 1937 warnt hier vor Lärm und Verunreinigungen. Das Retro-Schild ist nicht die einzige Trouvaille an der Sarnerstrasse. Vielleicht nehmen die Anwohner des Quartiers, das nach dem Philosophen Isaak Iselin benannt ist, den Geist der Aufklärung sehr ernst: Hier stapeln sich nicht etwa Bierdosen oder Dönerboxen wie in anderen Durchgängen dieser Art, sondern Bücher. Die Auswahl mag vielleicht nicht jeden überzeugen: Ein Englisch-Lernkrimi, Kinderverse, Reisememoiren und ein Sachbuch über das «Holzhaus der Zukunft» sind dabei. Wen aber etwas davon interessiert, sollte schnell zupacken. Mittlerweile hängen die Gratis-Schuhe im St. Johann nicht mehr, doch die Bücher an der Sarnerstrasse sind vielleicht noch zu haben. Doch nicht vergessen: Um zehn Uhr ist hier Ladenschluss.
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