Die Frau ohne Tisch

Von Romana Ganzoni

Zum heutigen Texttag präsentiert «Zeitnah: Kulturmagazin seit 2012» eine Geschichte von Romana Ganzoni. Tische scheinen alltäglich und überall zu sein, doch was geschieht, wenn jemand sie nicht mehr sieht und völlig auf sie verzichtet? Stehend essen und trinken ist nur der Anfang einer sich immer tiefer windenden Spirale.

«Zeitnah: Kulturmagazin seit 2012» schätzt sich glücklich, Ihnen an diesem Texttag eine Geschichte von Romana Ganzoni zu präsentieren. zVg

«Zeitnah: Kulturmagazin seit 2012» schätzt sich glücklich, Ihnen an diesem Texttag die Geschichte «Die Frau ohne Tisch» von Romana Ganzoni zu präsentieren. zVg

Heute geht es um eine Frau, die keine Tische sah. Sie hörte von Tischen, sie hörte von verschiedenen Tischen. Sie hörte von Salontischen und Tischen im Bierzelt. Aber sie sah sie nicht, sie sah keine Salontische, sie sah weder Esstische noch Gartentische, sie sah keine Arbeitstische. Sie zwang sich zu glauben, dass es Tische gab, aber sie selbst hatte keine Vorstellung von Tischen, und sie vermisste die Tische nicht, obwohl sie aneckte. Sie stolperte über Tische, sie stiess mit Tischen zusammen, sie fiel über Tische und verletzte sich, einmal schwer, denn sie sah die Tische nicht. Wahrscheinlich lag sie zuweilen unter Tischen, wusste aber nichts davon. Die Tische waren unsichtbar für sie. Sie befürchtete, die Welt der anderen müsse voller Tische sein, ihre aber kannte keine Tische, und das machte sie einsam.

Sie konnte das Glas nicht auf den Tisch stellen, auch nicht die Blumenvase, sie konnte ihre Beine nicht unter dem Tisch ausstrecken, die Füsse nicht auf und nicht unter den Tisch legen, sie konnte nicht während eines Abendessens füsseln mit einem attraktiven Gegenüber in der Gewissheit, dass das weisse Tischtuch ihr Tun verhüllte, sie konnte die Schuhe nicht unter dem Tisch liegen lassen oder im Spiel mit den Zehenspitzen den einen Schuh unter den Tisch schieben. Sie konnte nicht auf den Tisch hauen vor Wut, weil sie nicht sah, was da war.

Ihr Hund schlief nie unter dem Tisch.

Sie sollte verzweifelt sein, weil sie die Tische nicht sah. Die anderen, deren Welt voller Tische war, erwarteten es von ihr. Im Geheimen waren ihr die Tische nicht so wichtig, denn sie kannte sie nicht.

Sie ging nie in Restaurants. Sie ging nie aus. Sie setzte sich nie zu Tisch. Sie ass zu Hause, stehend. Und sie trank stehend. Ihre Mahlzeiten waren Apéros, sie ass schnell, war schnell satt. Die anderen fragten sie, ob sie nicht hungrig sei oder durstig. Sie sagte: Weiss nicht. Sie wusste es nicht.

Sie teilte nie einen Tisch mit einem Mann, nur das Bett, und eines Tages träumte sie im Bett von einem Tisch. Sie träumte von früher. Sie war ein Kind, und das Kind sah einen Tisch. Davon wachte sie auf. Sie wusste, dass sie von einem Tisch geträumt hatte, aber sie konnte sich nicht erinnern, wie er ausgesehen hatte, was es war. Sie stand auf und erbrach sich. Da sah sie einen Küchentisch, ihr Erbrochenes lag darauf; es war bunt und stank.

 

Romana Ganzoni, geboren vor dem Zvieri. Es war ein Dienstag. Es war April und Scuol. 1967. Der Kopf zwetschgenblau. Später Matura in Ftan et cetera. Fährt Subaru Justy (Grau Metallic). Seit letztem Sommer arbeitet sie an ihrem Roman. Erzählungen gibt es schon.


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