gesichtet #32: Farbige Oasen in der Betonwüste
Von Michel Schultheiss
Es hat ihn tief ins Unterland verschlagen. Fröhlich schlendert er mit der ergatterten Glocke unter der Johanniterbrücke hindurch. Dabei lächelt der Schellenursli der blau beleuchteten Neonschrift «Claudia ich liebe dich oder so 22.25 Uhr» zu. Im Unterschied zu jener Installation am Brückenpfeiler, die wohl jedem Besucher der Cargo-Bar ins Auge sticht, wenn er für die Rauchpause das Rheinbord betritt, ist der Schellenursli erst seit Kurzem an jenem Ort zu bewundern. Der wohl manchem aus Kindertagen bekannte Bündner Bub trägt die Handschrift von Seifrei. Der Streetart-Künstler hat der Bilderbuchfigur zu seiner neuen Heimat unter der Brücke verholfen. Seither mischt die Engadiner Persönlichkeit die graue Fassade, an welche sich meist Velos und Müllcontainer lehnen, etwas auf.

Vom Bilderbuch-Held zum Streetart-Motiv: Alois Carigiets Schellenursli wird von Seifrei zu neuem Leben erweckt – hier zusammen mit einem Werk von Robi the Dog (Foto: smi)
Der Schellenursli ist nur eine von vielen Gestalten, die dank Seifrei in der Stadt aufleben. Wohl jeder ist ihnen das eine oder andere Mal in Basel begegnet, den Figuren, welche Kinderbücher, Filme, Kunstfotografie-Bände oder halt einfach die Fantasie bevölkern. So lässt der depressive Roboter Marvin aus der Science-Fiction-Satire «Per Anhalter durch die Galaxis» seinen kugelrunden Kopf an so manchen Ecken der Stadt hängen. Da er immer wieder irgendwo in Basel auftaucht und verschwindet, hat er auch beim Fotokolumnisten schon für Déjà-vu-Erlebnisse gesorgt. «Wo hab ich den schon wieder gesehen?» – dies hat er sich bisweilen beim Anblick von Seifreis Kunstwerken gefragt. Dabei verleiht der Künstler insbesondere den «Unorten» Basels neuen Glanz: Egal ob Autobahnausfahrten, Eisenbahntrassees, Garagentore oder vernachlässigte Fassaden: Figuren wie Gurkenfrau, Gandhi oder Waggis suchen die entlegensten Winkel auf. Einer der zahlreichen Marvins kauert auch in einer Ecke des berüchtigten Steinenbachgässleins und hat dort die Putzaktion «Unverschmiert schön» der Stadtreinigung überlebt.
Der Künstler arbeitet vor allem mit Schablonen, zum Teil aber auch mit Freihandtechnik und Siebdruck. Seifrei wählt für die Kunstwerke Motive, die ihm etwas bedeuten: Sei es nun Räuber Hotzenplotz, Schellenursli oder Marvin – alle finden ihren Platz in einem passenden Winkel der Stadt. Besonders die ausdrucksstarken Porträts des Fotografen Lee Jeffries haben es Seifrei angetan. «Es sind alles randständige Leute, oftmals Obdachlose. Ich finde die gezeichneten Gesichter und die Mimik einfach genial», hält er fest. Bei seinen Aktionen fällt nicht nur dem Kunstwerk an sich eine tragende Rolle zu: «Die Wirkung des Ortes ist wichtig. Er muss zum Motiv passen», betont Seifrei. Manche Figuren fügen sich somit perfekt in die Umgebung ein, wie etwa der Feuerwehrmann, der die Mauer mit Farbe bespritzt oder der Vogeljäger, der auf echte und unechte Tauben schiesst. Seifrei fragt sich jeweils beim Erkunden der potentiellen «Ausstellungsorte», von wem das Erschaffene gesehen werden kann. Nicht zuletzt stellen sich aber auch ganz pragmatische Fragen, etwa wie oft die Gegend von der Polizei frequentiert wird.

Eines der Lieblingsmotive von Seifrei: Der depressive Roboter Marvin, hier im Steinenbachgässlein (Foto: smi)
Bisweilen formieren sich Seifreis Werke zusammen mit denjenigen anderer Künstler zu Combos, so zum Beispiel mit dem ebenfalls stadtbekannten Streetartisten Bustart. Die Schablonenkunst ist nicht nur in Basel – das laut Seifrei im Gegensatz zur Graffiti-Szene für die Streetart-Bewegung keine grosse Rolle spielt – zu sehen. Schellenursli und Lee Jeffries haben auch schon Abstecher nach Berlin, Bristol und andere Orte gewagt.
Seifreis Motivation besteht darin, den Alltag der Leute etwas aufzuheitern. Gleichzeitig möchte er aber auch ein Zeichen setzen, dass der öffentliche Raum «uns allen» gehört. Er ist der Ansicht, dass dieser nur von einer kleinen Minderheit gestaltet werde, etwa von Stadtplanern, Werbeleuten und Architekten, wobei die «stumme Mehrheit» kaum einen Beitrag leiste. «Vielen Leuten ist es mehr oder weniger egal, wenn eine Stadt grau und langweilig aussieht und der einzige Farbklecks von einer Werbetafel stammt, die uns einen HD-Fernseher verkaufen will» meint Seifrei. Mit künstlerischen Eingriffen ins Stadtbild wolle er hier eine Botschaft senden: «Mir und einigen anderen Leuten ist dies aber nicht egal. Ich freue mich über die kleinen Interventionen, die der grauen Betonwüste etwas Menschlichkeit zurückgeben», findet er. Unter dem Motto «Reclaim the streets» markieren die lustigen und skurrilen Gestalten zeitweilig Präsenz im Asphalt-Dschungel.
Die Quartieraufwertung, wie sie nicht weit vom Standort des besagten Schellenursli stattfindet, sieht Seifrei als Nachteil für seine Arbeit. Neubauten wie etwa diejenigen beim Voltaplatz werden mir mehr Aufwand sauber gehalten als ältere Bausubstanz. «Darauf kann man kreativ reagieren, die Frage ist nur, wie lange die Intervention vor Ort bleibt», findet Seifrei. Insofern gilt Schellenurslis keckes Lächeln auch als Wink mit dem Zaunpfahl an die Stadtentwicklung wie sie zum Beispiel im St. Johann zu sehen ist. «Allgemein finde ich es traurig, dass die Stadt lieber solche Quartiere hat als etwas heruntergekommene», meint Seifrei.

Schöner Beitrag! Ich finde Seyfrei macht sehr schöne Bilder, durchaus mit grossem Unterhaltungsgehalt.
Eine kritische Nachfrage dazu wäre aber:
Sind nicht gerade die mehrheitlich grauen Neubauten die potenziellen Leinwände der Street Art? Gerade weil man sich ja gegen den visuellen „Einheitsbrei“ von Stadt- und Quartierplanung stellt und stellen kann, ist Streetart hochgradig abhängig von solchen Neubauten. In heruntergekommenen Quartieren mit älterer oder maroder Bausubstanz gehören Grafitti und Street Art geradezu zum Stadtbild; es ist sozusagen öffentlicher Raum im pragmatischen Sinne, denn die Autoritäten der Verwaltung greifen nicht mehr ein, um den Raum in seiner Gestaltung zu bestimmen. Eine Bewegung oder ein Ansatz wie „Reclaim the Streets“ entfaltet seine Sprengkraft doch gerade in grauen, von Behörden kontrollierten und sauber gehaltenen Gegenden.
Das gesellschaftliche und politische Moment von Street Art wäre ja nicht gegeben, wenn die Stadtinstanzen sich nicht um „saubere“ Quartiere bemühen würde – gerade dieses Reibungsmoment macht für mich persönlich den Reiz und auch die Bedeutung von Street Art aus!
Lieber Mirco
Wahrscheinlich kann Seifrei diese Frage kompetenter beantworten als ich, doch ich kann trotzdem einmal schildern, wie ich seine Aussage verstanden habe. Ich sehe es auch so, dass Streetart gerade in sterilen Neubau-Quartieren eine weit höhere politische Sprengkraft entfalten kann als bei der Autobahnausfahrt XY. Mit künstlerischen Interventionen können auf diese Art und Weise an den «Orten des Geschehens» Fragen zur Stadtentwicklung aufgeworfen werden.
Die Probleme, welche Seifrei angesprochen hat, sind wahrscheinlich eher praktischer Natur: Die Quartieraufwertung erschwert die Durchführbarkeit der Kunstaktionen und verkürzt die Lebensdauer der Werke. So dürfte es wesentlich schwieriger sein, beim Novartis-Campus, im Voltaquartier oder beim Erlentor an exponierter Stelle eine Stencil-Kreation anzubringen als in einer eher «heruntergekommenen» Gegend, in welcher Streetart und Graffiti bereits zum Stadtbild gehören und von manchen als Bereicherung angesehen werden.
Gruss smi
Lieber Herr Melone
Ich gebe ihnen sehr wohl recht, Streetart ist abhängig von solchen Flächen und gerade dort hat es die grösste Wirkungskraft. Und wie Herr Schultheiss dies auch richtig verstanden hat, sind meine Erläuterungen eher pragmatischer Natur. Die Putzfrequenz an solchen Flächen ist zum Teil beängstigend hoch. Schon mehrmals konnte ich nicht mal ein Foto des Werkes machen, obwohl nur einige Stunden seit Anbringung vergangen sind.
Dieser Abnutzungskampf gegen Behörden, Abwärte und Hausbesitzer ist sehr zermürbend und anstrengend. Daher versuche ich zwar schon auch solche Flächen mitzugestalten, jedoch ebenfalls Orte, die zwar schon etwas „voller“ sind, dort aber das Werk eine grössere Chance hat, den nächsten Tag zu überleben.Denn um seine Wirkungskraft zu entfalten muss das Werk natürlich überhaupt erst mal gesehen werden.
Es ist ein Kampf gegen Windmühlen, der ein Teil des Ganzen ist und den man einfach in Kauf nehmen muss. Ich persönlich versuche eine relativ ausgewogene Mischung dieser „Flächenformen“ zu erreichen. Und der Ansatz “Reclaim the Streets” funktioniert natürlich nur in solch “sauberen” Quartieren, da in den anderen Gebieten, das Ziel ja gewisser-massen erreicht wurde.
Ihrem letzten Absatz stimme ich voll und ganz zu. Genau dies macht für mich ebenfalls den Reiz von Streetart aus.
Vielen Dank für ihre anregenden Gedanken.
Gruss seifrei
PS: Gibts mal wieder neue Musik oder werden jetzt nur noch Dissertationen geschrieben?