Der Reiz der Vergänglichkeit
Von Daniel Lüthi
Nach der Rezension zu «The Walking Dead» nähert sich Daniel Lüthi dem Phänomen Zombies in einem kulturgeschichtlichen Überblick und erweitert den Kreis der Untoten um Vampire.
«I am Dracula. I bid you… welcome.» Mit diesen Worten begrüsst Graf Dracula in Tod Brownings Verfilmung von 1931 seinen Besucher Renfield im Schloss. Bela Lugosi wurde als Dracula zur Ikone des Vampirs, der seine Opfer mit unheimlichem, aber dennoch unwiderstehlichem Charme zu verzaubern vermag. Gut dreissig Jahre später erschuf George A. Romero mit «The Night of the Living Dead» ein neues Filmgenre und bereicherte die Popkultur um ein weiteres Klischee: Die Zombies.
Dieser Essay widmet sich der kreativen Auseinandersetzung mit Tod und Vergänglichkeit, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts in Zombies und Vampiren zwei wichtige Eckpfeiler gefunden hat. Inspiriert von der Schauerromantik des 19. Jahrhunderts wurde das Unheimliche und Böse spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg nicht länger ausgegrenzt, sondern innerhalb der eigenen Gesellschaft gesucht und stets von Neuem gefunden.
Individuum versus Masse
Vampire und Zombies sind beinahe vollkommen gegensätzlich, obwohl sie beide dem Reich der Toten entstammen. Vampire zeichnen sich durch Eleganz und Persönlichkeit aus, während Zombies eher plump durch die Gegend schlurfen. Vampire sind stets Individuen, die eine magische Anziehungskraft ausstrahlen: Vom mächtigen Graf Dracula über die melancholischen Unsterblichen von Anne Rice bis hin zu den Twilight-Blutsaugern üben Vampire eine (durchaus sexuelle) Attraktivität auf uns aus. Wir fühlen uns sowohl fasziniert als auch abgestossen – bei Zombies überwiegt da eindeutig Letzteres. Sobald der reanimierte Tote zu verfallen beginnt und uns in Massen überfällt, verfliegt jegliche falsche Romantik.
Die Gegensätze reichen tiefer: Blut ist wichtig für Vampire, Zombies gieren nach Fleisch. Vampire sind Magier, die uns verhexen und verführen, Zombies haben es bloss auf unsere sterbliche Hülle abgesehen. Vampire erklären Blut zu einer Droge und erheben sie zu einer Kunst, in deren Mittelpunkt sie selbst stehen. Es liegt etwas Elitäres und Aristokratisches in ihrer Liebe zu Blut – wiederum ganz im Gegenteil zu der willenlosen Massenfresserei der Zombies. Einem Vampir sind wir zwar umso stärker unterlegen als einem Zombie, doch immerhin besteht bei einem Blutsauger noch die reizvolle Möglichkeit, selbst zu einem eleganten Phantom der Nacht zu werden. Norbert Borrmann schreibt in seinem Buch über Vampirismus, dass der Vampir die Urtriebe des Menschen anspricht: Man verliert zwar Seele wie Sterblichkeit, aber als Vampir kann man allen Trieben freien Lauf lassen und wird zu einem übermenschlichen Jäger. Zombies dagegen kennen nur ein Ziel: Fressen. Die Lebenden sind nicht Spielfiguren, sondern bloss Nahrung. Und wer das Unglück hat, doch noch zu einem Zombie zu werden, ist auch nur ein weiterer faulender Körper unter vielen. Kein Connaisseur und geschmeidiges Raubtier wie ein Vampir.
Die Umkehrung der Gesellschaft
Woher kommt also die Faszination für Zombies? In «The Walking Dead» und «World War Z» haben Zombies längst Fernsehen und Kino erobert – insbesondere die Fernsehserie zu Robert Kirkmans Zombie-Comicreihe hat sich zu einem langfristigen Hit entwickelt. Die Erklärung dafür ist einfach: Zombies sind ein gesellschaftliches Phänomen. Vampire zeigen Individuen, Zombies reflektieren die Gesellschaft als Ganzes und halten uns den Spiegel vor. Graf Dracula nutzt seine mächtige Persönlichkeit, um die viktorianische Gesellschaft Englands zu penetrieren, aber bleibt wie seine Nachfolger Lestat oder Edward stets ein Aussenseiter. Zombies dagegen kippen die Gesellschaft kurzerhand um und machen die Menschen zu den Aussenseitern. Vampire versuchen sich zu integrieren, Zombies schaffen ihren eigenen status quo.
Dies hat zur Folge, dass die Grundlagen der menschlichen Gesellschaft hinterfragt und neu gedeutet werden. Mit minimalem Budget und wenigen Schauspielern ist Romeros «The Night of the Living Dead» bis heute ein Meisterwerk des Zombiefilmgenres. Wie in «The Walking Dead» sind die Zombies nicht die eigentlichen Hauptfiguren, sondern bloss die Kulisse für ein riesiges Was-wäre-wenn-Szenario. Dass der einzige Überlebende in Romeros Film am Ende für einen Zombie gehalten und erschossen wird, erhält umso mehr Tiefe, wenn man seine schwarze Hautfarbe miteinbezieht. Das Thema Rassentrennung war in den USA der späten 1960er-Jahre besonders durch die Morde an Malcolm X und Martin Luther King, Jr. noch in schmerzhafter Erinnerung.
Das Echo Canettis
Was bei einem Vampir Furcht in uns auslöst, schlägt bei Zombies in nackte Panik um. Nicht die psychologische Komponente der Rückkehr des Verdrängten oder das memento mori der zerfallenden Körper üben aber die grösste Angst auf uns aus. Vielmehr ist es die Vorstellung, unsere Persönlichkeit zu verlieren und zu einem Teil der tumben Massen zu werden, unfähig, uns irgendwie auszuzeichnen oder herauszustechen. Zombies treten daher so gut wie nie alleine auf. Töten wir einen, treten zwei an seine Stelle. So oder so erwischen sie uns früher oder später, erdrücken uns mit schierer Anzahl – und wir verschwinden, entweder in ihren Mündern oder unter ihnen. Es sei denn, wir wehren uns.
Laut Canettis «Masse und Macht» will die Masse stets wachsen und benötigt keinen Führer – zwei Attribute, die auf Zombies eindeutig zutreffen. Es ist auch dieser Mangel an Ursachen, der uns Unbehagen bereitet. Warum sind die Untoten überhaupt wiederauferstanden und jagen uns nun? Die wenigsten Filme und Bücher geben eine Antwort – weil es schlicht von grösserer Wichtigkeit ist, das eigene Überleben zu sichern. Wir erfahren hier eine andere Form der Freiheit: Dank der Zombies ist unsere Gesellschaft verschwunden, und frei nach «The Walking Dead» müssen wir nun wieder lernen, zu leben. Geld und Status spielen auf einmal keine Rolle mehr. Das Leben wird zwar nicht einfacher, aber praktischer, unmittelbarer. Jeden Tag gilt es aufs Neue, sich bis zum nächsten durchzukämpfen.
Vielleicht lässt sich das Phänomen Zombies so erklären. Einerseits durch den Wunsch, dass das Leben – in diesem Kontext im Schatten einer Zombie-Apokalypse – wieder etwas überschaubarer werden möge. Andererseits ist es auch die Verteidigung all dessen, was uns wichtig ist, die unser Interesse an Filmen wie «28 Days Later» oder Büchern wie «The Zombie Survival Guide» erklärt. Was tue ich, um zu überleben? Wie verhalte ich mich? Gut oder böse? Wir ertappen uns selbst dabei, wie wir Szenarien im Kopf durchgehen, während wir dem Schicksal von fiktiven Charakteren folgen. Seit den Schauerromanen des späten 18. und 19. Jahrhunderts sind wir fasziniert von Figuren in Extremsituationen. Zombies als kulturelle Reflektion der Massengesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts erweitern diese Gedankenspiele um Themen wie Überbevölkerung, Welthunger und Epidemien. Auch wenn sie wie Dracula zum Klischee geworden sind, finden die Untoten stets neue Wege in die Welt der Lebenden. Sie sind im besten Sinn des Wortes nicht totzukriegen – und in welcher Form sie als Nächstes auftauchen werden, können wir nur mit Spannung erwarten.
Quellenangaben:
Borrmann, Norbert: «Vampirismus oder die Sehnsucht nach Unsterblichkeit». München: Diederichs, 1999.
Canetti, Elias: «Masse und Macht». München: Hanser, 1994.
- «Das Leben ist ein Tanz mit dem Tod» – Interview mit Tiz
- «Die Zikaden» von Ingeborg Bachmann – 1. Teil aus Elias Fausers «Wertloser Bibliothek»