Fragebuch November 2013 – Romana Ganzoni

1967 auf die Welt gekommen. Widder. Aus Scuol. Eu sun üna Valladra. Meine Lieblingsfarben im Kindergarten waren Orange und Blau. Mein erster Lehrer hiess Chasper Sarott. Die Namen der Mädchen, die mich geplagt haben, wollen mir nicht einfallen. Sie leben irgendwo und halten meine ausgerissenen Haare in ihren Händen.

Heute sitze ich in Celerina an einem Glastisch, denkend und träumend, ich träume mich nach Genua und denke allerlei Unbrauchbares, das ich im schlimmsten Fall aufschreibe. Den Wunsch meiner Mutter – sie sah mich als Kassiererin an der Coop-Kasse – habe ich nicht erfüllt, jetzt muss ich büssen. Büssen heisst unter anderem schreiben. Und siehe da! Wenn ich schreibe, bin ich ein bisschen wie die Kassiererin an der Coop-Kasse, zu der ich es nicht gebracht habe, das ganze Dorf zieht an mir vorüber, und das heisst: die ganze Welt. Erzählungen in Literaturmagazinen und Anthologien. Gedichte. Arbeit an einem langen Text, wahrscheinlich ein Roman, ein zickiges Ding, schlecht erzogen, faul oder dreist, wie ich. Aber ich bin lustiger. Die  Kurzgeschichte zu diesem Fragebuch finden Sie hier. Romana Ganzoni im Netz: www.romanaganzoni.ch

Auf was kannst Du eher verzichten: Lesen, Schreiben oder Essen? Warum?

Ich kann auf nichts verzichten, aber während des Lesens und vor allem während des Schreibens ist mir das Essen völlig egal, ich vergesse zu essen und zu trinken, das Hunger- und Durstgefühl, auch allfällige Müdigkeit oder der Drang zu urinieren, zieht sich zurück, macht sich nicht bemerkbar. Nach dem Schreiben meldet sich alles – auf einen Schlag.

Was ist dir lieber: eine durchschlafene Nacht oder eine Nacht, in der du vor lauter Schreibinspiration nicht schlafen kannst? Warum?

Eine rhetorische Frage. Eine Nacht des Schreibens ist mir natürlich lieber. Warum? Weil mich nicht immer das Schreiben, aber das Geschriebene existenziell nährt und manchmal sogar beglückt.

Max Frisch sagte, das Erfinden des Lesers sei der erste schöpferische Akt des Schreibens. Einverstanden?

Das Schreiben erfindet in erster Linie den Schreibenden, er erblickt sich schreibend als Individuum oder auch wie ein exotisches Tier oder eine knallbunte Blume oder einen Regentag, erst dann kommt es zu einem Leser. Dieser erste Leser ist der, der eben geschrieben hat: der Autor oder die Autorin selbst. Nach einer hundertjährigen Pause kommt dann noch ein Aussenblick hinzu: der des Ideallesers. Das Publikum liegt noch im Bett und soll nicht geweckt werden, denn es macht furchtbar Krach.

Wie wichtig ist der Gedanke ans Lesepublikum für dein Schreiben?

Der Gedanke ist während des Schreibens, wenn es fliesst, umhüllt, die Ohren verstopft – und das ist in meinem Fall eine gänzlich unintellektuelle Affäre, ein autoerotischer Akt –  nicht existent. Der Gedanke kommt später dazu, reflektiernd oder im Gespräch mit einem Leser. Der Gedanke ist dann die Frage: Will das, was du geschrieben hast, jemand lesen?

Hast du eine zentrale Schreibregel?

Ich habe keine «zentrale Schreibregel». Leider?

Wie viel von der SchriftstellerIn steckt in dir als Privatmensch?

Ich gestehe mir das intensive Schreiben, das Schreiben über das Schreiben und das Reden über das Schreiben erst seit einem Jahr zu. «Schriftstellerin» darf ich mich daher noch nicht nennen; ich habe zu wenig geleistet. Im Vergleich zu denen, die ich «Schriftsteller» oder «Schriftstellerin» nennen würde, die ein Werk vorzuweisen haben und nie zufrieden sind, bin ich einfach eine, die schreibt, eine, die sich das Schreiben zwanzig Jahre lang in masochistischer Manier vorenthalten und endlich aufgehört hat sich zu kasteien. Vielleicht werde ich irgendwann eine Schriftstellerin. Wenn es soweit ist, wird es mir jemand sagen. Ich bin nur glücklich, ich bin nur ein Mensch, wenn ich schreiben kann. Es gibt mich letztlich nur als schreibenden Menschen.

Wie viel vom Privatmensch steckt in der SchriftstellerIn?

Die Frage könnte auch lauten: Lebst du in deiner Freizeit ohne Herz und Genital?

Haben SchriftstellerInnen der Öffentlichkeit mehr zu sagen, als in ihren Büchern steht?

Nein.

Wer glaubt eher, dass SchriftstellerInnen mehr zu sagen haben, als in ihren Büchern steht: die SchriftstellerInnen oder die Öffentlichkeit?

Manche Autoren wünschen sich Einmischung, von manchen Autoren wird sie erwartet. Das ist temperament- und kontextabhängig.

Brauchen SchriftstellerInnen heutzutage Schriftsteller-DarstellerInnen, öffentliche Personae, Masken?

Es reicht eine gute Frisur.

Was ist wichtiger: als SchriftstellerIn in allen möglichen Belangen medienwirksame Antworten zu wissen, oder das eigene Schreiben aufrechtzuerhalten?

Existenziell zählt nur das Schreiben, der Rest ist Beigemüse, unwichtig, letzlich bare Zeitverschwendung.

Was ist für SchriftstellerInnen gefährlicher: keine Interviews geben zu können oder das Schreiben zu vernachlässigen?

Es gibt einen Markt, der Interviews fordert, Druck aufbaut, Konvention definiert. Aber, wer weiss, vielleicht sind keine Interviews bei einem, der das Publikum mit grossen Texten beschenkt, gerade weil er sich um das Publikum nicht bemüht hat, sogar sexier. Aber niemand kann das wollen, es muss die Wahrheit sein.

Schreibst du gerne?

Nein. Ja. Schreiben ist Leid. Schreiben ist Lust. Es gleicht der synästhetischen Erfahrung des Sadomasochismus.

Liest du gerne?

Ja.

Liest du gerne vor?

Ich lese gerne laut. Die eigene Stimme hören hat etwas Tröstliches und Erschreckendes, das die Zeit des Schweigens, die danach kommt, erträglicher macht.

Was hat sich im Lauf deines Schreibens den Lesungen gegenüber verändert?

Ich stehe ganz am Anfang. Gelesen habe ich bisher erst fünf Mal und von Anfang an gerne.

Was sagst du zu Daniel Kehlmanns Zitat: «Erzählen heisst, das Leben so zu gestalten, dass es dramaturgisch besser funktioniert als in der Wirklichkeit»?

Wer sagt, dass es in meiner Wirklichkeit (was immer das ist) dramaturgisch nicht bestens funktioniert, weil ich mir ja permanent erzähle, was «wirklich» geschieht, und durch Selektion und Klang runde oder nicht runde, variiere, breche? Text ist auch «wirklich». Erzählen heisst primär: zugeben, dass wir vergänglich sind. Trotzig sein. Widerstand leisten. Den Augenblick glänzen lassen. Erzählen heisst, einen Menschen, eine Situation, ein Gefühl festhalten, auf dass er/sie/es nicht vergessen gehe. Erzählen aber auch, weil mir nichts Besseres einfällt.

Ist es nach einem wirklich erfolgreichen Bestseller einfacher oder schwerer oder gleich schwer, weiter zu arbeiten?

Ein Bestseller oder ein grosser Preis kann für schöpferische Menschen eine Art GAU bedeuten. Für mich wäre es der reinste Glücksfall.

Wie wirkt sich Ortsgebundenheit auf dein Schreiben aus?

Seit einem Jahr meldet sich meine nomadische Seite. Ich würde gerne in einer Stadt oder Städten schreiben. Aber da ich eine Familie habe – einen Mann, drei Kinder – und da ich diese Familie von Herzen liebe, bleibt mir nichts anderes übrig, als in meinem hochalpinen Schreibzimmer zu sitzen. – Es ist zuweilen einsam hier. Das Lamentieren darüber gefällt mir sehr. Wahrscheinlich brauche ich die äussere Ruhe, denn in mir ist oft die Hölle los.

Wie wirkt sich das Unterwegssein auf dein Schreiben aus?

Ich komme in Schwung, werde euphorisch, vor allem während Zugreisen. Die Rhätische Bahn liebe ich besonders. Zweite Klasse, Halbtax, Retour.

Es gibt Leute, die verpassen eine Fahrt durch die Anden, den Sturzflug eines Adlers, der eine sich windende Schlange ergreift und davonfliegt, indem sie Gedichte lesen. Bist du da auch gefährdet?

Ich bin als masslose, verspielte und kindliche Lebensfresserin nicht «gefährdet». Ich wäre manchmal gerne «gefährdeter».

Wie schreibst du? Im Kopf, handschriftlich oder am PC?

Ich habe seit meiner Kindheit sehr intensive Tagträume, möglicherweise fast pathologischer Natur, und deshalb wage ich zu sagen: Ich schreibe auch im Kopf. Ich schreibe die Texte mit Hilfe eines Rechners auf.

Wie oft schreibst du ein Manuskript neu ab, ehe du es aus der Hand geben kannst?

Die Texte, die ich als mehr oder weniger gelungen sehe, entstehen nicht willentlich. Ich schreibe sie auf und korrigiere dann noch ein paar Details.

Ist das Aus-der-Hand-Geben eines Manuskript an den Verlag eher befreiend oder bedrückend? Hat sich diesbezüglich etwas geändert in deiner Karriere?

Mir fehlt die Erfahrung; darüber bin ich nicht unfroh.

Würdest du die allerersten Entwürfe deiner Bücher eher gesammelt in den Druck bringen oder im Reisswolf schreddern?

Alles, was nicht zur Publikation taugt, muss weg.

Welche Chancen siehst du für die Belletristik im WWW?

Das Internet ist eine ambivalente Sache. In der Ambivalenz steckt Potenzial. Ich hoffe, der Grund für Optimismus sei gegeben.

Welche Gefahren siehst du für die Belletristik im WWW?

Ein Rechner ist noch ungeniessbarer als die Belegexemplare, mit denen der arme Poet wenigstens ein Feuerchen machen kann, um nicht zu erfrieren oder die er – zerhackt – mit einer Tomatensauce verspeist.

Ist das Ebook dem Gutenberg-Buch überlegen oder unterlegen? Warum? Inwiefern?

Ich liebe die Sinnlichkeit eines Buches aus Papier, den Geruch, die Masse, das Gewicht, das Rascheln beim Blättern. Ein Ebook kann manchen praktisch vorkommen, wer das Praktische zu sehr betont im Leben, gilt mir als Langweiler.

Liest du Ebooks?

Nein. Sie sind zu dünn, zu hart, zu E. Oder aber: Ich bin zu rückständig.

Das «Zeitnah»-Fragebuch: Das sind Fragen zu Schreiborten und -unorten, Fragen zu Buchschreiben und Buchführen, Fragen dazu, was Schreibende heute noch wollen können, was sie hingegen wollen müssen, was sie sich anlesen und was von der Öffentlichkeit zugeschrieben wird et cetera: Alle diese Fragen werden im «Zeitnah»-Fragebuch versammelt und einmal pro Monat einer Persönlichkeit aus Literatur und Umland vorgelegt. Es entsteht ein Panorama der Schreibtemperamente, -methoden, -ansichten. Zusammen mit Texten aus eigener Feder ergibt sich Monat für Monat das Panorama eines literarischen Schaffens, über die Monate ein Archiv zeitnaher Literatur. – Lesen Sie am 15.12.2013 das «Zeitnah»-Fragebuch und Sonette des Schriftstellers Jan Decker.


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