Gib es mir höllenschön – Dominik Riedo über das Lesen und das Leben

Wer viel liest, wird selbst ein Buch. Wer viel liest, wird viele Bücher: Wer Dominik Riedos Text über das Lesen und das Leben liest, liest sein Leben anders, lebt sein Lesen anders als zuvor.

lucian_fliegendeBuecher_2_1024

Von Dominik Riedo

Wenn ich jetzt definitiv sagen wollte, welches Lese-Erlebnis mir das grösste war, so müsste ich Jugendliebe nach Jugendliebe bis in die intimsten Stunden aufzählen, denn eine jede war zu ihrer Zeit entscheidend für meine eigene Entwicklung. Ich müsste all die Stunden wieder hervorrufen, die ich allein in meinem engen Zimmer sass, geborgen vor den Schlägen der Welt, dem Keifen der Eltern, dem Hohn der Mitschüler.

Denn innerlich bin ich kein Mensch, wie man ihn landläufig versteht. Ich bin ein Buch, in dem es sich festschreibt. Nein: Ich bin viele Bücher. Ich bin die alte Idee von der überstürzten Abreise, wo man fieberhaft die eindrücklichsten Stellen der Weltliteratur in einem Buch zu einem einzigen zusammenklebt, in der Hoffnung, den Rest in Gedanken noch mittragen zu können. Deshalb bin ich sogar alle Bücher, die ich gelesen habe. Selbst jene, die mich nicht wegzogen, mitzogen. Sie gelesen zu haben heisst trotzdem immer auch: Türen zu finden in einem Paralleldasein, Fenster, die neue Ausblicke anbieten, andere Einblicke gewähren auf und in die Welt, die ich sonst so nicht angetroffen hätte.*

Aber vor allem bin ich das, was ich angelesen mochte. Was ich gerne verinnerlichte: Die Grimmschen und Hoffmannschen Geschichten, die Realitätsflucht-Bücher der Teenager-Jahre mit ihren Krimis und Abenteuergeschichten, Kästners Freude am versteckten Spiel, Dürrenmatts simple Art, Fragen zu stellen, die sich in der Nacht tief in einen hineinversenkten, Arno Schmidts ungestüme Art gegen alles zu poltern, was nicht seiner Lebensidee entsprach.

Später, schon auf dem indirekten Ausbildungsweg zum Schriftsteller, lernte ich die Bücher kennen, die mir handwerklich wichtig wurden: Die «Odyssee» und noch zuvor das Gilgamesch-Epos, die mich verbanden mit einem Leben, wie ich es von meinen Träumen kannte. Sophokles präsentierte mir die Kniffe, die man auf dem Theater anwenden durfte, Ovid verzauberte mir vor den Augen endlich auch die Menschen. Shakespeare zimmerte Leben nach Leben auf einige wenige Fuss breite Bretter. Der «Willehalm» liess mich Stil erahnen in einer Sprache, die ich zuvor nicht kannte. Joyce hat mir mit dem «Ulysses» gezeigt, was Literatur speziell gut kann. Können sollte. Es ist eins der handwerklich logischsten, lehrreichsten Werke überhaupt. Während Sterne mir das Abschweifen nahebrachte, das Leben als Zickzack, das ungeplante Vergnügen. Die menschliche Wärme schliesslich fühlte ich bei Proust, bei Oscar Wilde. Nabokov lenkte mich in die Moderne, während mir Flaubert aus einem Jammertal der Scheisse wie ein Leuchtturm entgegenstrahlte. Und Poe setzte mich nochmals neben die Welt, als ich mich schon lange mittendrin wähnte – was ich als Zeichen der Hoffnung sehe: Ich vertraue seither darauf, dass die Aneignungs-Listen mit den Jahren noch wachsen werden, die Blickwinkel zahlreicher, weiter.

Ja, viele Bücher kann man lesen, in viele Welten tauchen. Das ist gerade der gewaltige Vorteil des Lesers. Man muss sich nicht für eine Welt entscheiden. Es gibt Welten statt die Welt. So könnte ich nun auch aufzählen, welches ich für das beste Buch halte, welches für das wichtigste, welches mich das konsequenteste dünkte, das frischeste, frechste, das erschreckendste. Ohne viel Nutzen. Letztlich stehen alle wahren Literaturwerke für dasselbe: In allen birgt sich für mich das ‹Es-soll-anders-Sein›, die erhabene Würde eines verarbeiteten Schmerzes, der nicht mehr schmerzt … vermittelt durch nichts anderes als durch die Gestalt des Werkes, dessen Kristallisation sich zum Gleichnis eines ‹Anderen› macht, das nicht ist wie die Welt ausserhalb der Bücher.

Wenn man mich jedoch nach meinem liebsten Buch fragt, nach meinem Lieblingsbuch, nach der Geistesleibspeise, die man wie Brot essen kann, wenn es einem gut geht wie wenn es einem schlecht geht, das eine Grundspur meines Lebens voraufzeigt, das Buch, das ich auf dem Totenbett nochmals lesen möchte, wenn ich es dereinst kann –: so wüsste ich seit immerhin schon meinem 24. Lebensjahr kein anderes zu nennen als jenes, dessen Autor tief innen strebte nach einer sonderbaren, ganz eigenen Verschmelzung von Schopenhauer und Lichtenberg; ein Buch in leuchtend klar hingeschriebenem Stil, amalgamiert mit philosophischem Pessimismus; und das sich in erfrischend ehrlicher Verwandtschaft mit dem «Candide» und mit «Belphegor» einer festen Ausdruckskraft bedient, die gleich weit entfernt ist vom Überzuckerten wie vom holzig Gemütlosen; man ahnt, weiss, fühlt hier beim Lesen in Bezirken, die sich nur ganz selten einmal auftun; es ist ein Buch, das sogar durch eine Art Unvollendetsein, das letztlich alle Werke haben, etwas von dem aufzuzeigen scheint, was seine Unvollendetheit bedingte, der letzte mögliche Rekurs jedes Schreibens …

Dieses Buch, geschrieben mit einem gewaltigen, mit einem verzweifelt herzzerreisenden, zugleich alles verachtenden Lachen, steht für uns bereit da, wenn die schmierige Herz-Pumpe wieder einmal teuflisch pumpt: Lest doch! Lebt doch! Lest doch! bevor das Erdenfloss dem Styx zukentert: och, orro, orro, ollabu … Wenn wir nicht wissen, sollen wir resignieren oder sollen wir kämpfen. Dann steht es für uns da, mitten im Weltengebraus und Klingeklang der immerselben Thronreden und derselben Gauner: «Ich weiss wirklich nicht, warum der Mensch so am Leben hängt; was findet er denn so Angenehmes an dieser eintönigen Folge von Nächten und Tagen, von Winter und Frühling?» – Ich weiss es auch nicht. Aber: Das klinget so lieblich in meinen Augen, das schaut so schön aus für meine Ohren. Es macht das Leben höllisch lebenswert.

Und ein Jahr nach der Veröffentlichung von «Mon Oncle Benjamin starb der Autor Claude Tillier (1801–1844) an der Schwindsucht.

* Verachten, regelrecht verachten kann ich eigentlich nur ein einziges Buch: CCHDD AAHADKK. Denn wie anders wirken all die anderen Zeichen auf mich ein! Mit diesen kann ich fast immer sagen: Der Geist der Erde ist mir nah; schon fühl ich meine Kräfte höher; schon glüh ich wie von neuem Wein …; ja, ich fühle, lese ich bestimmte andere Werke, fühle Mut, mich in die Welt zu wagen, all Erden Weh und Last zu tragen … – und schliesslich, was will man mehr?

Dominik Riedo (*1974 in Luzern) lebt und arbeitet als Schriftsteller und Mitherausgeber von «Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie» in Bern. 14 Buchveröffentlichungen. Von den Kulturschaffenden der Schweiz und der interessierten Bevölkerung direktdemokratisch zum Kulturminister der Schweiz ernannt (2007–2009). Präsident des DeutschSchweizer PEN Zentrums von 2010-2012. Dominik Riedo schreibt regelmässig für «Zeitnah: Kulturmagazin seit 2012».

Stichworte: ,

%d Bloggern gefällt das: