Bitterer Aufbruch – Valeria Golinos «Miele»
Irene (Jasmine Trinca), Codename Miele (Honig), verhilft Schwerkranken zum Freitod. Die junge Frau ist mit einem verheirateten Familienvater liiert und auch ihre Angehörigen wissen nichts von ihrer illegalen Tätigkeit: sie kauft in Mexiko legale Substanzen, die sie dann in Italien (via Los Angeles) ihrer Kundschaft verkauft. Sie ist allerdings wirklich überzeugt von ihrer Arbeit. Erst als ein kerngesunder älterer Professor ihre Dienste in Anspruch nehmen will, kommen ihr Zweifel – vor allem aber will sie Carlo Grimaldi (Carlo Cecchi) – so der Name des Akademikers – vom Suizid abhalten.
Euthanasie ist ein heikles Thema – besonders in katholisch geprägten Ländern wie Italien oder Spanien. Marco Bellocchio hat das Thema in «Bella addormentata» behandelt; der spanische Kollege Alejandro Amenábar in «Mar adentro». Während in «Mar adentro» die Perspektive des Patienten im Zentrum steht und in «Bella addormentata» die der Aussenstehenden (Verwandte, politische bzw. religiös-politische AktivistInnen), ist es hier die Hilfeleistende, die als Hauptfigur fungiert. Ihr ideologischer Background bleibt dabei seltsam schwammig: ist sie wirklich daran interessiert, den Menschen zu helfen oder handelt es sich doch in erster Linie um einen – illegalen – Job? Für was lebt Irene eigentlich? Ist sie wirklich Akademikerin?
Sie ist mit einem verheirateten Mann liiert; diese zumindest teilweise wenig glückliche Beziehung stellt sie auf eine harte Probe, ist aber auch symptomatisch für ihr von Lügen geprägtes soziales Leben: nicht mal ihre Familienangehörigen wissen, was Irene beruflich macht. Ebenso wenig natürlich ihr Liebhaber. Auch wenn es auf den ersten Blick absurd erscheinen mag: diese Identitätssuche Irenes erinnert an Adèle, die Hauptfigur in Abdellatif Kechiches umstrittener Comicverfilmung «La vie d’Adèle». Wie Adèle kann auch Irene ihren Nächsten (d.h. ihrer Familie) nicht sagen, was mit ihr wirklich los ist. Wie Adèle sucht auch Irene Trost bei einem Mann – was aber nur dazu führt, das ihr Leben implodiert. Und in beiden Fällen ist es die Gesellschaft, die das traurige Schicksal der Protagonistinnen besiegelt. Irene ist zwar nicht lesbisch, aber sie ist mindestens so sehr Aussenseiterin wie Adèle, die aufgrund ihrer mangelnden Bildung keinen Zugang zum Umfeld ihrer Freundin findet. Irene wiederum ist eine sehr eigenwillige junge Frau, die ihren Weg sogar jenseits gesetzlicher Schranken sucht. Am Schluss sind beide allein. Vielleicht finden sie aber beide doch noch ihren Weg, vielleicht gerade im Ausland: ein Aufbruch – zumindest für Irene – scheint möglich, trotz allen Enttäuschungen. Regisseurin Valeria Golino, bisher vor allem als Schauspielerin («Rain Man», «Hot Shots!») bekannt, legt mit «Miele» ein starkes Début vor.
«Miele». Italien/Frankreich 2013. Regie: Valeria Golino. Mit Jasmine Trinca, Carlo Cecchi, Libero de Rienzo, Vinicio Marchini u.a. Deutschschweizer Kinostart: 17.7.2014.
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