Eine Welt, die das menschliche Scheitern nie verzeiht: Die Geschichte des Torhüters Barbosa
Von Michel Schultheiss
Ja, es ist nur ein Spiel. Trotzdem gehen die Bilder unter die Haut: Man denke etwa an Brasiliens treuesten Fan Clovis Acosta Fernandes, der sich verzweifelt an seinen Pokal klammert oder an das Tränen-Interview von Ersatz-Captain David Luiz.
Nach der vernichtenden 1:7-Niederlage der Seleção in Belo Horizonte kreierte eine brasilianische Zeitung sogleich das Wort «Mineiraço». Die Ereignisse in der Hauptstadt des Staates Minas Gerais liessen nämlich sogleich ein Déjà-vu aufblitzen: Der «Maracanaço», der WM-Schock, von 1950, war wohl einigen als Erinnerungsort des brasilianischen Fussballs präsent.
Die jüngste Demütigung lässt zwar die 1:2-Niederlage von damals ziemlich klein und banal aussehen. Dennoch handelt es sich um ein Spiel, das sich wie nur wenige andere ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat. Zudem verdichtete sich jenes Trauma in einer Person: Moacir Barbosa. Er ging als die grosse tragische Figur jenes WM-Finals in die Geschichte ein.
Vom Mustersportler zur Persona non grata
Barbosa galt als einer der besten Keeper der Welt. Gross waren dementsprechend auch die Erwartungshaltungen: Im Final gegen Uruguay am 16. Juli 1950 war den Zuschauern im proppenvollen Maracanã klar, wer die Favoritenrolle innehatte. Die Aufbruchstimmung nach dem Zweiten Weltkrieg im brandneuen Riesenstadion trug dazu bei. Es stand 1:1. Elf Minuten vor Abpfiff überraschte der uruguayische Stürmers Alcides Ghiggia den brasilianischen Torhüter: Der Ball ging ins Netz. Für einen Moment soll unter den rund 200’000 Zuschauern eine Totenstille geherrscht haben. Viele konnten ihren Augen nicht trauen, als Barbosa auf dem linken Fuss erwischt wurde und ihnen der WM-Titel somit im letzten Moment entglitt. Die Niederlage war in dreifacher Hinsicht bitter: Zuhause, im brandneuen Maracanã und das erst noch gegen den kleinen, unterschätzten Nachbarn Uruguay.
Der Sündenbock war ziemlich schnell gefunden: Moacir Barbosa musste den Kopf für die Blamage hinhalten. Der angesehene Sportler mutierte zur Persona non grata. Der verhängnisvolle Treffer blieb für Barbosa zeitlebens ein Stigma. Eine Karriere als Trainer oder Sportkommentator blieb ihm verwehrt. Sogar als Rentner konnte er Jahrzehnte später seine Vergangenheit niemals loswerden: Bei einem Qualifikationsspiel für die WM 1994 gegen Uruguay verbot ihm sogar der Nationaltrainer ausdrücklich, der Seleção einen Besuch abzustatten – aus Angst, er könne den Spielern Unglück bringen.
«Der Mann, der Brasilien zum Weinen gebracht hat»
Das Schlimme daran war, dass Barbosa diesen Schmach verinnerlichte und sich bis zu seinem Tod mit jenem Moment auch selbst marterte. Experten sind sich einig, dass wohl kein Torhüter Ghiggias Ball hätte halten können. Dennoch fühlte sich Barbosa schuldig: Selbst als alter Mann hatte er weiterhin Ghiggias fatalen Torschuss vor Augen. Im Jahr 2000 war er in einem Interview noch immer als gebrannter Mann zu sehen: In Brasilien betrage die Höchststrafe für ein Verbrechen dreissig Jahre, er hingegen müsse auch nach fünfzig Jahren noch seine Strafe absitzen, meinte er nachdenklich. Der traurigste Moment seines Lebens soll dabei nicht das uruguayische Tor an sich, sondern eine andere Begebenheit gewesen sein: Jahre später erblickte ihn eine Passantin auf der Strasse. Sie zeigte mit dem Finger auf ihn und sagte zu ihrem kleinen Sohn: «Schau, dieser Mann hat Brasilien zum Weinen gebracht» – so zumindest lautet eine der vielen Anekdoten, die über Barbosa erzählt werden.
Heute würde man es einen Shitstorm nennen: Barbosa erlitt den sozialen Tod. Zwar blieb er nach dem Maracanaço noch Profi-Spieler beim Club Vasco da Gama und in der Nationalmannschaft, wobei ihm eine Verletzung für die Teilnahme an der nächsten WM einen Strich durch die Rechnung machte. Nach seinem Rückzug aus dem Sportlerleben landete er ausgerechnet wieder an jenem Ort, der ihm das Genick gebrochen hatte: Er kümmerte sich fortan im Maracanã-Stadion als Platzwart um die Instandhaltung der Schwimmbecken.
Nach der Pensionierung wollte er nicht mehr der Öffentlichkeit in der Grossstadt Rio de Janeiro ausgesetzt sein und entschied sich, seinen Lebensabend an der Küste zu verbringen. Mit einer sehr bescheidenen Rente verbrachte er dort die letzten Jahre, bis er im Alter von 79 Jahren starb. Über diese letzte Zeit gibt es unterschiedliche Angaben: Während manche schreiben, er habe die Welt in völliger Einsamkeit verlassen, bezeichnet seine Adoptivtochter dies als übertrieben. Die erste Version würde wahrscheinlich noch mehr die Tragödie um die Person unterstreichen.
Die Strafe von Maracanã
Der grosse Anti-Held des Fussballs inspirierte viele Kulturschaffende: Zurzeit ist in Salvador eine Ausstellung von Künstlern zu sehen, welche Barbosa in ihren Gemälden verewigten. Im brasilianischen Kurzfilm «Barbosa» aus dem Jahr 1988 von Ana Luiza Azevedo und Jorge Furtado wurde seine Geschichte ebenfalls verarbeitet: Ein Fan, der damals als Junge beim Maracanaço mitlitt, reist mit einer Zeitmaschine ins Jahr 1950 zurück, um Barbosa vor seinem Schmach zu bewahren. Leider scheitert er aber mit seinem Vorhaben und wird so selbst zum Mitschuldigen an der Niederlage.
Eines der schönsten musikalischen Denkmäler setzte ihm ausgerechnet ein Sänger aus dem Land, welches Brasilien damals bezwang. Der Uruguayer Tabaré Cardozo widmete ihm eine liebevolle Hommage. Wie er singt, wandelt Barbosa noch als Gespenst durch die Stadt. Sein Schatten mäht den Rasen im Stadion, während sich der verheerende Spielzug in der Einsamkeit um ein Tausendfaches wiederholt. Das «Urteil von Maracanã» muss er bis zum Tod ertragen, meint Cardozo. «Quema los palos», verbrenn die Pfosten – damit spielt er im Refrain auf eine Anekdote an, die vorher schon vom Schriftsteller Eduardo Galeano festgehalten wurde: Als Platzwart krallte sich Barbosa drei Balken der alten Holz-Tore, die durch metallene ersetzt wurde. Barbosa soll eine Grillade organisiert haben, um diese Pfosten in einem Akt von Exorzismus abufackeln. Diese «Reliquien des Traumas» vom Ort, das zu seinem Gefängnis wurde, sollten so womöglich in Rauch aufgehen, um einen Schlussstrich unter dieses Kapitel zu ziehen. Dennoch blieb jenes Ereignis zeitlebens an ihm hängen: «Es war der einzige Grund, weshalb ich nicht vergessen wurde – selbst nach meinem Tod werden sie mich noch beschuldigen», meinte er kurz vor seinem Tod. Womöglich war er diejenige Figur des brasilianischen Fussballs, welcher am meisten Ungerechtigkeit widerfahren ist.
Der wahre Held des Fussballs
Die Geschichte von Moacir Barbosa ist vielleicht auch deshalb so berührend, weil sie das Scheitern und die darauffolgende Erbarmungslosigkeit der Gesellschaft so gut veranschaulicht. Die traurigen Momente, die durchaus zum Fussball gehören, überborden hier, um einen Menschen zu demontieren. Gerade beim Fehlgriff eines Torhüters verdichtet sich diese zutiefst menschliche Eigenschaft: Sekundenbruchteile entscheiden alles, und eine Wiederholung ist nicht möglich. Gerade dies macht ihn aber zum wahren Helden des Fussballs: Wie kaum ein anderer musste er sich durch eine Partie kämpfen, das fast fünfzig Jahre lang dauerte: Ein Spiel gegen all die schmähenden Blicke der Gesellschaft – und nicht zuletzt auch gegen sich selbst, der sich zeitlebens in diesem Tor eingekerkert fühlte.
Barbosas Schicksal sagt aber auch viel mehr aus über alle diejenigen, die an der Hexenjagd beteiligt waren: Auf den Torhüter zu spucken bedeutet vielleicht, mit dem Scheitern als menschliche Grundeigenschaft nicht klarzukommen. Was nicht sein darf, wird einfach auf einen anderen projiziert. Wenn besonders beim Fussball immer versucht wird, ein «wir» herzustellen, etwas, womit sich angeblich alle identifizieren – ein Mythos, der besonders im Fall vom derart heterogenen Land Brasilien immer wieder herbeigeredet wird – ist bald einmal Schluss, wenn es ums Scheitern geht: Dann kommt es zu einer Verschiebung von der Masse zum Einzelnen. Somit steht Barbosa für das verdrängte Scheitern des Menschen schlechtin.
Bei der WM 2014 ist die Sache nicht so klar. Im Unterschied zu damals ist der Sündenbock noch nicht genau bestimmt. Die Wut richtet sich auf mehrere Beteiligte wie den Stürmer Fred, den Trainer Luiz Felipe Scolari oder den Kolumbianer Juan Zúñiga, der vorher Neymar aus dem Turnier gefoult hat. Doch selbst beim Mineiraço soll Barbosa beteiligt gewesen sein: Mehrere Zeitungen kommentierten, dass sein Gespenst beim Spiel gegen Deutschland herumspukte. Auch Barbosas Adoptivtochter meldete sich zu Wort: Nach der weit grösseren Blamage von 2014 sei der Torhüter nun von seiner Schmach erlöst. Nun endlich könne er endlich in Frieden ruhen.
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