Mord in der Morgenshow
Zum Texttag präsentiert Zeitnah einen Kurzkrimi von Philipp Probst, den der Autor anlässlich der BuchBasel innerhalb eines Tages live bei Radio Energy Basel geschrieben hat. Das Making of dazu lesen Sie in den Features.
„Zeitnah: Kulturmagazin seit 2012“ schätzt sich glücklich, Ihnen an diesem Texttag einen Kurzkrimi von Philipp Probst präsentieren zu dürfen. zVg
Von Philipp Probst
Um 08.13 Uhr stürmt Mario Brunner ins Studio. Er schreit. „Dominique! Dominique!“ Der Moderator der Morgenshow liegt unter dem Mischpult. „Was ist los? Dominique!“
Dominique Heller, der Moderator der Morgensendung und einer der Stars des Lokalsenders Energy Basel rührt sich nicht. Mario Brunner drückt auf dem Sendepult einen Knopf und bringt so den Computer in Aktion. Das rote Sendelicht geht aus. Im Radio ist nun Musik zu hören.
Mario beugt sich zu Dominique, fasst ihn an die Schulter, schüttelt ihn leicht: „Hey, was ist los mit dir?“
Dominique reagiert nicht. Mario legt ihn in die Seitenlage, versucht festzustellen, ob er noch atmet. Mario vernimmt ein leises Röcheln, in Dominiques Mundwinkel bilden sich Bläschen. Mario prüft den Puls. Er spürt ihn zwar, aber nur schwach und unregelmässig.
„Hilfe!“, schreit Mario. „Hilfe! Ruft die Sanität!“ Dann schüttelt er Dominique wieder. „Sag was, mach kein Scheiss!“
Dominique reagiert nicht. Das Röcheln ist verstummt.
Der Tag hatte ganz normal angefangen. Um 03.30 Uhr war Dominique Heller, ein kleiner, wirbliger Mann mit einer übergrossen Brille mit schwarzem Rahmen, in die Redaktion gekommen und hatte sich auf seine Sendung, die um 5 Uhr startete, vorbereitet. Er hatte die Musikliste gecheckt, Einspielungen von Interviews und anderen O-Tönen überprüft und war das Drehbuch der Sendung durchgegangen. Mit ihm im Studio waren Mario Brunner, der Produzent der Morgensendung. Ein smarter, blonder Typ, den alle nur Supermario nannten. Ebenfalls an der Arbeit war Mario Stich, der Nachrichtenredaktor. Er trug wie immer ein schlabbriges T-Shirt und hackte seine Texte in den Computer. Die Haupthemen für die News waren einfach: Der FC Basel hatte sein Abendspiel gewonnen, dabei gab es auch Ausschreitungen, in der Stadt startete an diesem Freitag das Buchfestival Buchbasel und in der Schweiz gibt es so viele Äpfel wie nie. Die letzte Meldung war eine Notlösung, denn eine bessere gab es nicht. In der Schweiz schien überhaupt nichts passiert zu sein.
Dominique ging kurz vor 5 Uhr auf die Toilette und putzte sich die Zähne. Das war sein Ritual vor jeder Sendung. Dann schaute er noch kurz aus dem Fenster. Der Sternenhimmel an diesem herbstlichen Tag wurde durch keine einzige Wolke verdeckt. Es würde also ein schöner Tag werden. Für Dominique war dies eine wichtige Tatsache. Nicht für sich persönlich, sondern für seine Hörer. Ein toller Herbsttag zum Auftakt des Wochenendes – das würde seine Moderation für die nächsten fünf Stunden mitbestimmen. Jung, urban, aufgestellt. Das war das Konzept des Senders. Und Dominique war der Morgenstar. Immer fröhlich, lustig, gut drauf.
Die Sendung verlief bestens. Dominique, sein Produzent Supermario und Redaktor Martin hatten alles im Griff. Dominique hielt sich mit Wasser und Bananen fit. Manchmal sass er auf dem Hocker vor dem Mischpult und wippte mit der Musik mit. Wenn er moderierte, stand er auf, schaute auf den Bildschirm, auf dem alle Beiträge und das komplette Musikprogramm angezeigt wurden, klickte die Interviews an, fuhr mit dem Regler ständig auf und ab – ein kleiner Tick von ihm – liess die Musik laufen und wünschte während dem Intro seinen Hörern „einen herrlichen guten Morgen“. Wenn die Sängerin oder der Sänger jeweils zu trällern begann, schaltete er sich punktgenau weg. Die Sendung hatte Zug, Groove, war einfach cool. So, wie es die Hörer wünschten.
Alles lief wie am Schnürchen. Bis 08.13 Uhr.
Mario Brunner sass an seinem Schreibtisch und klickte sich durchs Internet, um aktuelle Themen und Trends aufzustöbern, die vielleicht einen Gag ergaben, den sein Moderator bringen könnte. Mit einem Ohr hörte er die Sendung.
Dominique kündete einmal mehr an: „Möchtest du zu Nelly Furtado, zu Seven? Energy macht’s möglich. Mit ‚Energy Stars for free‘ kannst du gratis zu diesem absoluten Mega-Konzert, du musst nur …“
Mario hörte nun genau hin.
Dominique sprach nicht weiter.
Drei, vier, fünf, ja zehn Sekunden Ruhe auf einem Sender, der ansonsten 24 Stunden ohne eine einzige Pause durchrockte.
Dann war Mario von seinem Sitz aufgesprungen und ins Studio gespurtet.
Jetzt, um 08.46 Uhr, alarmieren die Sanitäter die Polizei und verkünden Mario Brunner, dass sie das Studio sperren müssen. Mittlerweile sind weitere Mitarbeiter des Senders in der Redaktion eingetroffen und laufen nervös hin und her. Arbeiten kann niemand. Alle sind geschockt und schwatzen wild durcheinander. Das Telefon klingelt ununterbrochen. Hörer, die wissen wollen, warum Dominique nicht mehr moderiert und warum nur noch Musik läuft.
Mario Brunner fragt den einen Sanitäter, warum die Polizei kommen müsse.
„Tut mir leid“, sagt der bärtige Mann, „ihr Kollege ist tot. Deshalb muss die Polizei kommen.“
Ohne ein Wort zu sagen, verlässt Mario Brunner das Studio und geht zu Daniela Rohr, die Moderatorin des Tagesprogramms.
„Du musst übernehmen, Daniela“, sagt Mario. „Dominique geht es nicht gut.“
Daniela starrt Mario an: „Was? Warum? Was ist los?“
„Los jetzt, ins Studio 2 und ab die Post. Fröhlich weiter moderieren. The show must go on.“
Daniela zupft ihre blonden Haare, die sie heute zu einer strengen Frisur zusammengebunden hat, zu recht und geht langsam zu ihrem Pult.
„Los, Daniela, los, geh auf Sendung. Zeig, was du kannst, gib Vollgas, sei ein Profi!“
Daniela atmet drei Mal tief durch, geht ins Studio 2 und schaltet die Sendung aus dem Studio 1 zu sich. Sie blendet die Musik aus und sagt: „Hey, guten Morgen auf Energy. Ich bin Daniela Rohr und begleite euch durch den Morgen. Dominique ist es übel geworden und musste nach Hause. Wir wünschen ihm gute Besserung.“
Eva Nidecker wundert sich, warum ein Krankenwagen an der Grosspeterstrasse vor dem Studio von Radio Energy steht. Die junge Programmleiterin des Senders betritt das moderne, halbrunde Gebäude, steigt die Treppe in den ersten Stock hoch und sieht sofort, dass etwas nicht stimmt. Zudem hört sie, dass nicht Dominique, sondern Daniela moderiert.
„Was ist denn hier los?“, ruft sie.
Sofort kommen mehrere Mitarbeiter zu ihr und erzählen, dass Dominique während einer Moderation zusammengebrochen sei.
„Wo ist Mario?“, will Eva wissen. Ihren energischen Tonfall macht allen klar, dass das keine Frage ist, sondern der Befehl, Mario sofort zu ihr zu rufen.
Eine Minute später kommt Mario mit schnellen Schritten und erklärt ihr im Flüsterton, dass Dominique tot sei, das Team aber noch nichts davon wisse. Danach führt er seine Chefin ins Studio 1 zu Dominique und den Sanitätern.
Eva bleibt stehen. Dann kniet sie sich zu Dominique.
Sie weint.
Um 09.23 Uhr herrscht auf der Redaktion eine äusserst angespannte Stimmung. Überall stehen Polizisten herum. Mehrere Leute in weissen Schutzanzügen haben das Studio 1 in Beschlag genommen und sichern Spuren. Dominiques Wasserflasche wird in einen luftdichten Behälter gelegt, mehrere Bananenschalen, die im Mülleimer liegen, werden ebenfalls eingepackt. Ein angeknabberter Schokoriegel auf der Gegenseite des Sendepultes, an dem Martin Stich die News vorlas, wird auch in einen Plastiksack gelegt.
„Kann mal einer endlich diese Scheissmusik abstellen?!“, schreit plötzlich ein Mann in zivil.
Eva geht sofort zu ihm, ruft Mario zu, die Redaktionslautsprecher abzuschalten, und fragt den Mann: „Wer sind Sie?“
„Guten Tag, wer sind Sie denn?“, will der Mann wissen. Er hat ein rundes Gesicht, eine kleine goldene Brille. Er lächelt.
Eva stellte sich vor.
„Gut. Danke. Ich bin Roger Löhrer von der Kantonspolizei. Ich leite diesen Einsatz hier.“
„Können Sie etwas zum Tod von Dominique sagen?“
„Nein. Aber ich habe viele Fragen an Sie. War Dominique krank?“
„Nein, nicht das ich wüsste.“
„Aha, aha. Der Arzt ist sich natürlich noch nicht ganz sicher, aber wir müssen in Betracht ziehen …“ Löhrer stockt. „Also, verstehen Sie das nicht falsch“, beginnt Löhrer erneut. „Zum jetzigen Zeitpunkt können wir nicht ausschliessen, dass Dominique gewaltsam zu Tode kam. Die Obduktion wird …“
„Was?“, ruft Eva laut heraus.
Roger Löhrer packt die Programmleiterin sofort an den Schultern. „Ganz ruhig, Frau Nidecker, das will alles gar nichts heissen.“
„Dominique wurde ermordert?“ fragt Eva ganz leise.
„Wie gesagt, wir müssen alle Möglichkeiten überprüfen.“
„Eva, was ist?“, mischt sich plötzlich Martin Stich ein.
„Dominique wurde ermordet.“
„Nein, nein“, sagt Löhrer sofort. „Das steht nicht fest. Wer sind Sie?“
„Martin Stich, Redaktor. Was wissen Sie bereits?“
„Aha, aha. Passierte heute irgendetwas Aussergewöhnliches?“, fragt Roger Löhrer ganz ruhig ohne auf die Frage von Martin einzugehen.
„Nein“, antwortet Eva. „Nun ja, also wegen der ‚Energy stars for free‘-Aktion herrscht hier Ausnahmezustand, weil eben alle scharf sind auf die Tickets.“
„Energy stars für was?“, fragt Löhrer nach.
„Eine Konzertaktion mit Superstars“, erklärt Eva. „Wir verschenken Tickets.“
„Aha, aha. Schön. Und was bedeutet das?“
„Also da kommen halt viele Leute hier ins Studio. Einige bringen Kuchen oder Blumen mit und hoffen, dass sie Tickets bekommen. Aber das funktioniert natürlich nicht so.“
„Wurden denn Tickets gestohlen?“, will Löhrer wissen.
„Nein“, antwortet Eva. „Die Tickets gibt es gar nicht. Die Gewinner können diese via Internet ausdrucken. Bei uns ist nichts zu holen.“
„Aha, aha“, macht Löhrer nur und wendet sich einem der weissgewandeten Männern zu. Er bespricht sich mit ihm. Dann bittet Löhrer Eva Nidecker zu sich und flüstert ihr zu: „Orientieren Sie jetzt das Team und sagen Sie, dass wir mit allen reden müssen. Wir werden den Toten abtransportieren, so dass niemand etwas davon mitbekommt.“
Nach der Orientierung durch Eva Nidecker über Dominiques Tod, an der sie kein Wort über einen möglichen Mord sagte, geht Martin Stich zu seinem Vorgesetzten, Nachrichtenchef Michael Wieland und bittet ihn darum, aus der Tagesaktualität ausscheiden zu dürfen, ihn würde das alles zu sehr beschäftigen.
Michael zeigt Verständnis dafür, eilt zu Daniela und Mario ins Studio 2 und teilt den beiden mit, dass er persönlich nun für die News zuständig sei.
„Schiebt unser Fetti eine Krise?!“, stichelt Mario gegen seinen etwas fülligen Kollegen.
„Bitte, Mario!“, sagt Daniela und verdreht die Augen. „Wie kannst du nur!“
„Hey, bleibt mal locker“, sagt Mario. „Wir machen hier Radio, okay? Immer lustig und locker …“
„Halt den Mund!“, unterbricht Michael, verlässt das Studio und geht zurück zu seinem Arbeitsplatz. Dieser liegt direkt hinter Martin Stich. Er schielt nach vorne und sieht, dass Martin trotz seiner Bitte, nicht weiter arbeiten zu müssen, im Internet recherchiert.
„Was machst du denn?“, fragt er seinen Kollegen.
„Ach, nichts weiter.“
„Sag schon. Du recherchierst doch etwas, oder?“
Michael kennt seinen Mitarbeiter gut. Er weiss ganz genau, dass Martin ein Vollblutjournalist ist und sicher herausfinden will, was mit Dominique passiert ist.
„Martin, sag schon!“, fordert ihn Michael auf.
„Ich muss mal einen Schluck Wasser trinken.“
Martin steht auf und geht in den Pausenraum am anderen Ende der Redaktion. Kurz darauf folgt ihm Michael. Er schliesst die Türe. Sie sind alleine.
„Los, was ist los?“, will Michael wissen.
„Pass auf“, beginnt Martin. „Ich bin mir fast sicher, dass Dominique umgebracht worden ist. Vermutlich mit Gift.“
„Du bist doch verrückt!“
„Lass mich. Ich werde es herausfinden!“
Roger Löhrer sitzt neben Debbie Rullo im Empfangsbereich der Redaktion. Die junge, quirlige Frau mit dem Pferdeschwanz, der bei jeder Bewegung einen lustigen Tanz aufführt, erklärt dem Polizisten, wie die Tickets-Aktion funktioniert, schildert ihm hastig, wie und wer wann ins Studio kommt und was alles schon passiert ist. Natürlich, manchmal gebe es aufdringliche Fans. Ja, Dominique habe schon einige Groupies. Und bei so Ticket-Aktionen käme es halt manchmal zu Tumulten.
„Aha, aha“, sagt Roger Löhrer immer wieder und schaut Debbie dabei konstant in die Augen. Er lächelt.
Debbie erzählt und erzählt und ist vor Aufregung kaum zu stoppen.
„Wenn ich Sie richtig verstanden habe“, unterbricht Löhrer irgendwann, „dann kann hier eigentlich jeder mehr oder weniger ohne Kontrolle eintreten.“
„Nein, also … irgendwie …“
„Schon gut, Frau Rullo. Schon gut.“
Roger Löhrer bedankt sich und steht auf. Er seufzt. Falls Dominique Heller tatsächlich getötet worden ist, würde dieser Fall ein Riesending werden. Ein mehr oder weniger offenstehendes Bürogebäude mit möglicherweise Hunderten von Verdächtigen. Dann noch all die Ticket-Freaks … Und das an einem Freitag! Er würde sich ausklinken gegen Abend. Er musste und wollte in die Probe seiner Guggemuusig. Danach ein, zwei, drei Bierchen …
„Verdammt nochmal“, schreit Debbie plötzlich und reisst damit Löhrer aus dessen Gedanken.
„Diese blöde Kaffeemaschine. Guckt mal diese Schweinerei!“
Löhrer lächelt. „Das Leben geht trotz einem Mord ganz normal weiter“, murmelt er zu sich.
Martin Stich steht vor dem Gebäude in der Sonne und raucht eine Zigarette. Er durchsucht sein Smartphone nach allen möglichen Leuten, die ihm weiterhelfen könnten. Gemeinsame Freunde und Bekannte von ihm und Dominique. Sollte er sie anrufen?
Er zündet sich eine neue Kippe an.
Dann fängt er an zu telefonieren. Jeden Anruf beginnt er gleich: „Hey, es ist etwas Schreckliches passiert mit Dominique. Er ist tot zusammengebrochen heute Morgen.“ Nachdem sich die Freunde vom ersten Schock erholt haben, sagt er jeweils: „Vielleicht wurde er sogar umgebracht.“ Und nach neuerlichen Ausrufen des Entsetzens fragt er vorsichtig: „Könntest du dir denn vorstellen, wer ihn töten wollte?“
Martin erntet darauf nur ein „Nein, um Gotteswillen!“
Das vierzehnte Telefonat verläuft anders. „Hat die Schlampe ihn abgemurkst?!“, ruft Angie.
Martin bekommt einen Hustenanfall. Angie ist eine Freundin einer anderen Radiostation. „Wen meinst du?“, fragt Martin und versucht den Husten zu unterdrücken.
„Daniela natürlich, die will doch Dominiques Show!“
Um 10.55 Uhr ruft Roger Löhrer den Gerichtsmediziner an und fragt, ob er schon etwas zur Todesursache wisse. Genaue Angaben könne er noch nicht machen, meint dieser, aber Löhrer könne davon ausgehen, dass der junge Mann, der hier auf dem Seziertisch liege, vergiftet worden sei.
„Scheisse“, murmelt Löhrer.
Auf der Redaktion von Energy Basel versuchen die Mitarbeiter, den Radiobetrieb einigermassen normal aufrecht zu erhalten. Moderatorin Daniela Rohr lässt sich nichts anmerken, spult ihr Programm ab, wirkt aufgestellt und locker wie immer. Mario Brunner bereitet die Morgenshow für den Montag vor.
Martin Stich sitzt wieder an seinem Arbeitsplatz. Immer wieder steht er auf, geht langsam am Studio 2 vorbei und beobachtet Daniela. Hat sie Dominique tatsächlich getötet? Nur um seine Show zu beerben? Er kann es sich nicht vorstellen.
Um halb zwölf Uhr zieht er seine dicke Daunenjacke an und verabschiedet sich. Auch die Polizei hat nichts dagegen einzuwenden. Er müsse sich allerdings zur Verfügung halten.
Martin geht Richtung Stadt. Sein Handy klingelt mehrmals. Journalistenkollegen wollen wissen, was bei Energy los sei, ob tatsächlich ein Mord passiert sei?
„Ich kann dazu nichts sagen“, antwortet er. „Noch nicht!“
Er geht nach Hause und fährt sofort seinen PC hoch. Er versucht via Facebook und alle anderen Social-Media-Kanäle irgendetwas herauszufinden. Über Dominique, über Daniela, über sonst jemanden aus dem Team. Aber er stösst auf nichts, was nur ansatzweise auf einen Zoff schliessen liesse. Alle äussern und zeigen sich im Web nur so, wie es für Mitarbeitende von Radio Energy erwartet wird: Super gut drauf und voller Power.
Schliesslich loggt er sich ins Mailsystem des Senders ein und checkt seine Eingänge. Die meisten stammen von Journalistenkollegen, die ihn mit Fragen bestürmen. Er beantwortet sie kurz, geht dann auf seine kleine Terrasse und zündet sich wieder eine Zigarette an.
Plötzlich bekommt er einen Adrenalinstoss, drückt die Zigi aus und geht zurück an den PC.
„Gut, es ist vielleicht eine Scheissidee, aber das ist mir jetzt egal.“
Er klickt sicher wieder ins Mailsystem. Doch dieses Mal meldet er sich nicht als Martin Stich, sondern als Daniela Rohr an. Das Programm verlangt natürlich nach einem Passwort. Vor Wochen musste er einmal eine Mail von Daniela haben für einen Radiobeitrag, als sie in den Ferien war. Sie hatte es ihm am Handy gesagt. Martin erinnert sich, dass es der Name ihres Katers war: Bebbo. Dahinter war aber noch eine Zahl.
Er versucht es mit Bebbo 1 bis Bebbo 0. Doch es funktioniert nicht.
„Hat sie das Passwort tatsächlich geändert?“, fragt er sich selbst und versucht es weiter. Bebbo 10, Bebbo 11, Bebbo 12, Bebbo 13 – schwupps, drin ist er.
„Yes!“, sagt er laut. „Es ist nicht die feine Art, aber was soll’s.“
Martin geht die Mails von Daniela durch. Leise singt er den Song von Tim Bendzko: „Muss nur noch kurz die Welt retten, danach flieg ich zu dir. Noch 148‘713 Mails checken, wer weiss, was mir dann noch passiert, denn es passiert so viel.“
Es sind nicht gerade 148‘713 Mails. Aber doch einige Hundert im Posteingang. Und nochmals rund 150 bei den gesendeten Mails. Martin scrollt sich durch, aber auch hier findet er nichts Verdächtiges.
„So, Schluss mit dem Quatsch“, flüstert er, klickt aber noch auf die gelöschten Mails. Fast 1000 Mails liegen darin. „Dass der Server noch nicht hopps gegangen ist, wundert mich“, sagt er zu sich. Flüchtig schaut er sie durch. Als er den Namen seiner Chefin Eva Nidecker entdeckt, stockt er. Sollte er ihr Mail anschauen? Ja! Es lautet: „Tolle Sendung, liebe Daniela.“
Einerseits ist der Reporter froh, nichts Relevantes entdeckt zu haben. Anderseits ist er auch enttäuscht. Er sollte die Sache auf sich beruhen lassen …
Dann stösst er auf eine Mail von Mario Brunner: „Sweetie, wir schaffen das. Kuss!“
Martin ist elektrisiert. Mario? Der Supermario mit der Daniela?
Er scrollt weiter nach unten. Er findet eine Mail von Daniela an Mario: „Heute abend 20 Uhr bei mir?“
Martin meldet sich aus dem Mailprogramm ab und googelt den Namen Mario Brunner. Doch Martin muss schnell feststellen, dass „Mario Brunner“ ein Allerweltsname und das Web voll mit Mario Brunners ist. Allerdings erinnert er sich daran, dass ihm Mario mal erzählt hat, früher studiert zu haben. Also durchforstet er jetzt die Uni Basel nach dem Namen. Tatsächlich findet er einen Eintrag innerhalb der medizinischen Fakultät.
„Das gibt es doch nicht“, sagt Martin. „Wenn unser Supermario mal Medizin studiert hat, ist er wohl fähig, einen Giftcocktail zu mischen und ihn Dominique unterzujubeln.“ Aber wie? Ins Wasser? Nein, es müssen die Bananen sein!
Er ruft Polizist Roger Löhrer an: „Mir ist etwas eingefallen, dass Ihnen vielleicht weiterhelfen könnte!“
„Aha, aha? Schiessen Sie los.“
Martin findet den Ausdruck „losschiessen“ für einen Polizisten etwas unpassend. Trotzdem sagt er: „Die Bananen, haben Sie die Bananen untersucht? Waren sie vergiftet?“
„Aha, aha“, macht Löhrer erneut, bedankt sich und beendet das Gespräch.
Martin gönnt sich noch eine Zigarette, dann ruft er Mario an. Sie reden lange über die Tragödie. Schliesslich fragt Martin, wer denn jetzt wohl Dominiques Nachfolger werden wird.
„Mensch, Daniela natürlich, wer sonst?“, antwortet Mario sofort. „Wenn da ein anderer Depp hinkommt, bin ich weg.“
„Meinst du, Daniela schafft das?“
„Ey, Fetti, pass mal auf, Daniela ist die Beste. Die geht eh bald zum Fernsehen, sie ist ein echter Star!“
„Du Arsch nennst mich Fetti?“, schimpft Martin, atmet tief durch und sagt dann ruhig: „Hast du Dominique getötet?“
„Du hast echt einen Knall, ich muss jetzt weiter …“
Martin hört noch Geschrei im Hintergrund, eine Durchsage „Einsteigen bitte und los geht es …“ Dann wird die Verbindung unterbrochen.
„Der Kerl ist an der Herbstmesse!“
Martin schlüpft in seine Jacke und rennt aus dem Haus.
Seit über fünf Stunden sitzt Daniela Rohr im Studio 2 und moderiert. Sie ist müde. Schon mehrmals hat sie Programmleiterin Eva Nidecker gebeten, abgelöst zu werden. Doch Eva beharrte darauf, dass sie wie gewohnt bis 15 Uhr auf dem Sender sein müsse. Alles andere würde unter den Hörer erneut für Aufregung sorgen.
Um 14.41 Uhr zeigt die gelbe, blinkende Lampe im Studio an, dass jemand anruft. Daniela schaltet die Leitung frei.
„Hey, ich bin es, Martin.“
„Du? Was gibt es?“, fragt Daniela erstaunt.
„Wo ist Mario?“
„Mario?“
„Jetzt tu nicht so erstaunt. Du weisst ganz genau, wo Mario ist. Er ist an der Herbstmesse. Aber wo genau?“
„Was fragst du mich? Warum …“
„Daniela, ihr zwei habt eine Affäre oder eine Beziehung oder was auch immer, das ist jetzt unwichtig. Aber ich weiss, dass Mario Dominique umgebracht hat!“
„Was?“
Natürlich ist sich Martin nicht sicher, und Beweise hat er schon gar keine. „Hör zu, er soll sich stellen, du musst mir helfen, wir müssen mit ihm reden.“
Daniela antwortet nicht.
„Wir treffen uns nach deiner Sendung vor der Kirche am Claraplatz, okay?“
Daniela sagt noch immer nichts.
„Bitte, Daniela!“
Um 15 Uhr steht Martin vor der Clarakirche und tippelt nervös von einem Bein auf das andere. Und er raucht eine Zigarette nach der anderen.
„Los, Daniela, komm!“, wiederholt er immer wieder leise.
Sein Handy bleibt stumm. Kein Anruf, kein SMS, keine Mail.
15.20 Uhr. Immer noch keine Daniela.
Endlich, um 15.33 Uhr erscheint sie. Sie trägt ihre Haare jetzt offen. Und eine Sonnenbrille. Diese nimmt Daniela ab, als die Martin begrüsst. Ihre grossen, blauen Augen sind verheult, wie Martin sofort bemerkt.
„Glaubst du tatsächlich, dass Mario zu so einer Tat fähig ist?“
Martin nimmt seine Kollegin in den Arm.
„Das ist doch alles Wahnsinn“, sagt sie, löst sich von Martin und wischt sich die Tränen ab. Dann beginnt sie zu erzählen. Von der fixen Idee Marios, sie zum grossen Radio- und TV-Star zu machen. Sie habe das alles nie so ernst genommen, wäre zufrieden mit der Sendung, die sie jetzt habe und möchte mir Mario einfach nur ein normale Beziehung führen. Vor allem nicht mehr heimlich. Aber Mario wolle erst als Paar auftreten, wenn sie ein Star wäre.
„Der hat ja komplett einen Knall“, sagt Martin. „Aber warum hast du dich nicht längst getrennt von ihm?“
Daniela sagt ganz leise etwas. Martin versteht sie kaum, meint aber ein „ich weiss es nicht“ gehört zu haben. Er verzichtet darauf, nachzufragen.
„Los, lass uns Mario treffen!“
Martin weist Daniela an, so zu tun, als sei nichts weiter geschehen. Tatsächlich bemerkt Mario nichts, Daniela vereinbart mit ihm, ihn in 10 Minuten vor der grossen Uhr auf dem Messeplatz zu treffen.
Mario kommt tatsächlich. Martin und Daniela bleiben in einiger Entfernung stehen.
„Ich kann das nicht“, sagt Daniela.
„Wir ziehen das jetzt durch, es ist besser für Mario, wenn er sich heute noch stellt, glaube mir“, sagt Martin. „Ruf mich, wenn ich eingreifen soll.“
Daniela geht langsam auf Mario zu. Sie umarmen sich, küssen sich sogar flüchtig. Dann sieht Martin, wie die beiden reden. Zuerst ruhig, dann immer aufgeregter. Schliesslich läuft Mario davon, geht wieder zu Daniela zurück, schüttelt sie, schimpft.
Obwohl Daniela ihn nicht ruft, geht Martin zu den beiden.
„Gib auf, Mario, stell dich“, sagt Martin langsam.
„Hau ab, Fetti!“, zischt Mario.
„Nein, lass uns zur Polizei gehen.“
Mario packt Daniela, schiebt sie Richtung Messehalle.
„Mario, bitte!“, sagt Martin. „Nur du kannst Dominique vergiftet haben! Nur du kannst einen Giftcocktail mischen. Du hast Medizin studiert. Hast du das Gift in die Bananen getan, die Dominique während der Show immer isst?“
„Oh, Kommissar Fetti, du kombinierst ja super, gratuliere. Habe ein bisschen übertrieben, deshalb ist der Kerl gleich abgekratzt. Scheiss drauf, hat er Pech gehabt unser Star!“
Dann gibt er Daniela einen zünftigen Stoss, greift ihren Arm und rennt in die Messehalle mitten in den Messetrubel. Martin hinterher.
„Hau ab, Fetti!“, schreit Mario.
„Ich rufe die Polizei!“, ruft Martin zurück. Er zückt sein Smartphone, sucht die Nummer von Roger Löhrer und wählt sie an. Als er wieder aufschaut, sind Mario und Daniela in den Menschenmassen verschwunden. „Verdammt!“
Einige Minuten später rasen mehrere Polizeiwagen vor die Messehalle, Beamte stürmen heraus, Roger Löhrer tappt träge hinterher. Martin eilt ihm entgegen.
„Sie hatten recht. Wir fanden eine ziemlich eigenartige Giftmischung in der Banane, vermutlich mit Pentobarbital angereichert. Braucht man um Tiere einzuschläfern. Oder auch Menschen.“
Die Polizisten mischen sich unter die Leute, halten Ausschau nach einem jungen, schönen Paar. Martin und Roger Löhrer laufen ebenfalls durch die Halle. Draussen werden die Ausgänge abgeriegelt. Weitere Polizeiautos fahren auf den Platz. Dazu Sanitätswagen, selbst die Feuerwehr rückt an.
Martin und Löhrer gehen in den Rundhof hinaus zum 66 Meter hohen Free-Fall-Tower.
„Da sind sie“, ruft Martin. Tatsächlich sieht er aber nur Daniela. Sie sitzt in der vollbesetzten Gondel, die rauf und runter saust. Daniela krallt sich am Sicherheitsbügel fest. Mädchen kreischen, laute Musik aus den Bässen, blinkende Lichter, fröhliche Menschen überall.
„Rauf und runter, das macht Spass!“, ertönt es plötzlich aus dem Lautsprecher.
„Mario!“, ruft Martin entsetzt. „Das ist Marios Stimme!“
Tatsächlich entdeckt er Mario im Cockpit des Schaustellerbetriebs. Er ist alleine, fuchtelt mit einer Waffe herum, die Kassiererin und den „Piloten“ des Towers hat er offenbar überwältigt und rausgeworfen. Oder erschossen.
„Daniela, immer ganz nach oben, das willst du doch! Oder?“ Mario lässt die Gondel nach hinauf schnellen, dann rasant nach unten. „Das macht Spass! Aber siehst du, Süsse. Es geht schneller abwärts als aufwärts! Ich liebe dich!“
Die Messebesucher sind verunsichert. Die Polizisten gehen zu den Leuten und schicken sie hinaus.
„Hoch hinaus, mein Schatz, tief hinunter, gefällt dir das?“, schreit Mario. Die Gondel rast dauernd auf und nieder. Die Leute auf der Bahn kreischen nicht mehr, sie schreien. Rauf und runter. Rauf und runter.
Minuten vergehen.
Plötzlich hört Martin, wie Roger Löhrer „Zugriff“ sagt.
Dann ertönt über den Lautsprecher: „Polizei, Waffe fallen lassen!“
Es wird still.
Mario lässt sich abführen. Die Kassiererin und der Schausteller tauchen auf. Der ältere Mann bringt seine Gondel sachte hinunter auf den Boden. Die Passagiere können aussteigen und werden zu den Krankenwagen gebracht. Auch Daniela.
Am Montagmorgen sitzt Programmleiterin Eva Nidecker um Punkt 5 Uhr am Mikrofon.
„Hier ist Radio Energy, dein Morgen. Guten Tag, Basel!“
ENDE
PS: Der Kurzkrimi wurde live an einem Tag geschrieben. Mehr Infos zum Autor und seinen Büchern auf http://www.philipp-probst.ch
Philipp Probst schrieb und verfilmte bereits mit 16 Jahren erste Drehbücher und ist heute als Schriftsteller, Journalist und Chauffeur tätig. Zu seinen Veröffentlichungen zählen u.a. das 2009 als „Der Fürsorger“ verfilmte Buch „Ich, der Millionbetrüger Dr. Alder“ und der 2011 erschienene Roman „Der Storykiller“.
- Making of – wie der Radio-Live-Krimi „Mord in der Morgenshow“ entstanden ist
- Der Alltagsstress spielt Piano
