Den Widerstand der Welt erfahren – Interview mit Jonas Lüscher

Von Gregor Szyndler

Jonas Lüscher ist Träger des Berner Literaturpreises 2013. Im Interview mit «Zeitnah» spricht er über sein Schreiben zwischen Literatur und Wissenschaft, sein Opernlibretto und über die Welt als Widerstand.

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«Schreiben bedeutet, man liest viel, erfährt viel, recherchiert viel, versucht die Welt aufzunehmen, denkt darüber nach und ab und zu kommt einem ein Satz in den Sinn, den man aufschreiben will. Ob der Philosophie oder Literatur ist, ist nicht so interessant.» (© Jonas Lüscher)

Ausnahmezustand im Wüsten-Luxusresort «Thousand and One Night»: Eine randalierende Hochzeitsgesellschaft von englischen Bankern schlachtet ein Kamel. Weil England Konkurs gemacht hat. Weil die Kreditkarten gesperrt sind. Weil ihre gut bezahlten Jobs gekündigt werden. Weil kein Natel mehr funkt. Preising, ein alternder Schweizer Unternehmer und Hauptfigur der Novelle, wird Zeuge tumultuöser Augenblicke: Der Morgen nach dem rauschenden Fest bringt Lähmung und Leere. Das englische Pfund existiert nicht mehr. Preising erinnert sich im Abstand einiger Jahre an diese Ereignisse. Seine Erinnerungen folgen dem Genre «Womit ich am 11. September gerade beschäftigt war». Dieselbe Kraft, die damals entsprang aus dem Eindringen zweier Passagierflugzeuge in die Twin Towers, unentwegt, in Endlosschlaufe, entspringt nun den Bildern des englischen Premierministers, der den Staatsbankrott erklärt. Es ist einer dieser Augenblicke, die weit über sich selbst hinaus zeigen. Unfassbares ereignet sich, und es entzieht sich, noch, dem Zugriff der Erzählung. Das ist, in aller Kürze, der Inhalt von Jonas Lüschers Novelle «Frühling der Barbaren». Es sind Sekunden, in denen man die Welt nicht mehr versteht: Man hat sich sich zu sehr daran gewöhnt, die Welt in Bildern und Gestalten zu sehen, die ihr willkürlich zu- und eingeschrieben wurden. Auf einmal ist die Kraft dahin, die es für diese Zuschreibung brauchte. Die Welt entgleitet, wird wieder sie selbst, wirft uns aus unseren Deutungsmustern. Es ist die Lage der in der Wüste gefangenen Banker: Ohne ihre Jobs, ohne die Durchsetzungskraft ihrer Kreditkarten und bar der Gewissheit, wenn schon nicht masters of the universe, so doch wenigstens im Vollbesitz der zur erzählenden Vermessung der Welt notwendigen Begriffe zu sein, werden sie von Fremdheit und Dichte der Welt überwältigt und überfordert. Mühsam domestizierte Triebe feiern Urständ. Dubiose Gestalten schwingen sich zu Rädelsführern auf. Der Wandschirm zwischen Zivilisation und Barbarei ist dünn und milchig-transparent. Er eignet sich besser für das Aufführen eines unheimlichen Schattenspiels als zum Verbergen all des anderen, was auch noch in uns schlummert.

Bis ich an diesem regnerischen Mai-Vormittag den Weg zu Jonas Lüschers Büro an der Zürcher ETH gefunden habe, schreite ich in Gedanken den Verlauf der Novelle ab. Etwas daran zieht mich ebenso an, wie es mich abstösst. Ich kriege mein Befremden nicht zu fassen. Jonas Lüscher bietet mir Kaffee an. Er schraubt die winzige Espressomaschine zusammen. Bald macht er sich, so bin ich überzeugt, auf den Weg zum nächsten Kochherd, um in ein paar Minuten mit dampfendem Kaffee zurückzukehren. Das hätte mir die Zeit gelassen, meiner seine Novelle betreffenden Verwunderung nachzuhängen oder das spärlich, irgendwie provisorisch möblierte Büro unter die Lupe zu nehmen. Aber er schliesst das Espresso-Maschinchen an die Steckdose an und setzt sich. Neben der zischenden, gurgelnden Maschine finden wir im Nu ins Gespräch.

Jonas Lüscher, worum geht es in deiner Novelle?

Ich will Einzelfälle beschreiben. Man sollte das nicht zu exemplarisch lesen. Ich will nicht die Finanzkrise aufklären, sondern gewisse Aspekte aufzeigen. Uns wird andauernd gesagt, es sei alles so kompliziert, da könne man nichts ausrichten. Da hält man sich zurück und macht gar nichts. So werden Figuren wie Preising möglich. Das wird uns überall verkauft, etwa von Angela Merkel, die gern von «Alternativlosigkeit» spricht. Wenn sogar die Regierung sagt, dass etwas alternativlos sei, braucht man nicht mehr zu handeln.

In deiner Novelle gibt es einen Revue passieren lassenden Erzähler, einen Erzähler, der dem Revue passieren lassenden Erzähler zuhört und einen über beiden stehenden, allwissenden auktorialen Erzähler. Warum so viel narrative Distanz?

Preising ist eine Figur, von der ich mich distanzieren will, die ich kommentieren will. Das Kommentieren von Preisings Handeln oder Nichthandeln ist mir wichtig.

«Während Preising schlief, ging England unter» – Warum trifft es nicht die Schweiz?

Ende 2007 und Anfang 2008 dachten viele Analysten, dass England als erstes fällt. So gesehen ist es ein plausibles Szenario. (Pause) Ich konnte nicht das Land des Protagonisten untergehen lassen. Das hätte andere Konsequenzen gehabt. England habe ich aus verschiedenen Gründen gewählt. Erstens haben sie es besonders verdient. Sie haben sich zu sehr auf den Finanzmarkt verlassen. Zweitens wollte ich auf keinen Fall ein Euro-Land untergehen lassen. Das hätte andere Auswirkungen auf die Weltwirtschaft gehabt, die erklärt werden müssten. Das wäre ein ökonomisches Traktat geworden.

Die Höllenfahrt der englischen Wirtschaft spiegelt sich in der Novelle im Gebaren einer ausschweifenden britischen Hochzeitsgesellschaft. Was reizte dich an der Nähe von Fest und Untergang?

Die Fallhöhe. Die Katharsis. Der dramaturgische Kniff. Der Tanz am Rand des Vulkans, die dekadente Party, bevor Rom abbrennt. All diese Bilder aus der Literaturgeschichte.

Ich kannte viele der angesprochenen Bilder. Bis auf das geschlachtete Kamel.

Das ist ein literarisches Zitat …

… aus «1001 Nacht»?

… nein, sondern aus «Wassermusik» von T.C. Boyle.

Von T.C. Boyle kenne ich nur die Geschichte von dem Bären, der eine Hanfernte auffrisst. Als der Plantagenbesitzer vorbeischlurft, greift der Bär nicht an, weil er so schläfrig ist.

Aha, ja, das Kifferbuch, ich weiss gar nicht, wie das heisst … [«Grün ist die Hoffnung», d. Red.] Mir geht es darum, zu zeigen, wie das Erzählen über drei Ecken zu so schrecklichen Ereignissen führt. Ich wollte zeigen, wie sich zwei zufällige Ereignisse kumulieren und zu so etwas führen. Nicht alle von Preisings Zuhörern merken ja, dass die Sache mit dem Kamel nur eine Story ist. Quicky zum Beispiel merkt es nicht. Quicky hat eine ordentliche Auffassungsgabe, aber leider ganz schlechte Literaturkenntnisse. Er ist einer der wenigen, der nicht merkt, dass es ein T.-C.-Boyle-Zitat ist …

… Quicky und ich …

Ich blättere gravitätisch, wenn auch ein wenig ziellos, in Lüschers Buch herum, um jede Ähnlichkeit mit Quicky zu vermeiden.

… mir geht es darum, zu zeigen, wie das Erzählen über drei Ecken zu solchen schrecklichen Ereignissen führt.

Dafür, dass «Der Frühling der Barbaren» keine 130 Seiten hat, staunt man über die Vielfalt angeschnittener Themen: Da ist von Söldnern und Irak-Soldaten die Rede, es wird die Erosion des Bildungskanons und der Wegfall der Unterscheidungsfähigkeit zwischen Fakt und Fiktion inszeniert, verfehlte Entwicklungshilfe für Afrika kommt ebenso aufs Tapet wie die verschiedenen Welten von Managern und Patrons.

Hast du dich je versucht gefühlt, deine Novelle zum Roman auswachsen zu lassen?

Nein. Das war von Anfang an als Novelle angelegt.

Jonas Lüscher versteht sich auf Auslassung und Andeutung, auf Präzisierung ebenso wie auf schweifende Umkreisung. Nehmen wir seine Hauptfigur Preising. Zwischen den in der eingeschobenen Erzählung berichteten Ereignissen und dem Augenblick ihrer Erzählung klafft ein Graben: Preising erzählt seine Geschichte spazierend und sitzend, in einem Park. Es ist der Park einer psychiatrischen Klinik. Wie es zu Preisings Psychiatrie-Aufenthalt kam, wird ausgeklammert. Wohl findet man Hinweise auf Schicksalsschläge, den Verlust eines Kindes. Aber damit hat es sich. Es bleibt an den Lesenden, die Lücken zu füllen.

Wieso überlässt du es deinen Lesern, die Lücken zwischen rahmender in eingerahmter Erzählung zu füllen?

Es wäre nicht interessant das auszuerzählen.

Es ist nie infrage gekommen, das auszuerzählen?

Der Lektor hätte es gern gehabt. Mich hätte es gestört. Ich finde das nicht interessant. Man muss Sachen offenlassen. Vor dem Lektorat ist es sogar offen gewesen, ob Preising überhaupt in einer Psychiatrie ist – man musste sehr genau lesen, um das herauszufinden. Das hab ich erst später deutlicher gemacht.

Kannst du dich an den ersten Satz der Novelle erinnern, den Du geschrieben hast?

Ähm (eine mit einem Schluck Kaffee markierte Pause folgt) Ich hatte einen anderen Anfang. Geblieben ist der erste Satz.  «Nein. Du stellst die falschen Fragen» – das war von Anfang an der erste Satz. Der ist geblieben. Das und der letzte Abschnitt.

Das ist ja auch ein starker Einstieg: in media res mit einem „Nein“.

Ja.

Wie viel von der Kultur, die zur Krise führte, steckt in uns allen?

Wir stecken tief in einer kapitalistischen Lebenswelt. Es wird grotesk und kompliziert, wenn man versucht, auszuweichen. Die Herstellung von Kleidern ist eine interessante Frage. Eine Textilfabrik stürzt ein. Eintausendzweihundert Leute sterben. Endlich redet man darüber. Wir Konsumenten aber müssen uns verrenken, um eine Jeans mit Fairtradesiegel zu finden …

… die das Dreifache kostet …

Das finde ich OK. Das ist kein Problem. Das Problem ist, dass man so viele Verrenkungen machen muss, um herauszukommen. Das dahinterstehende Konsumverhalten erreicht uns auf basaler Ebene. Es macht happy, etwas zu kaufen, Gelegenheitskäufe helfen, schlechte Stimmungen zu überbrücken. Das kann man neurophysiologisch nachvollziehen.

Wobei die Freude umso grösser ist, wenn uns ein Schnäppchen gelingt. Wenn wir uns ein Haus ‘kaufen können’, das unsere Mittel übersteigt.

Auf dem Finanzmarkt haben viele Leute den Eindruck gewonnen, dass aus Geld Geld entstehen muss. Man nimmt es als Naturgesetz und geht für grosse Zinsen grosse Risiken ein. Ich las neulich einen Artikel. Eine Frau erbte 30’000 Euro und legte es bei der isländischen Kaupthingbank an. Hinterher wollte sie nicht verstehen, dass das Geld weg ist. Da fragt man sich, warum sie nicht sich über das Geld freute, für das sie nichts tun musste. Deutsche Regionalbanken warben mit dem Slogan: «Lassen Sie ihr Geld für sich arbeiten.» – Das klingt gut. Das klingt clever. Viele haben mitgemacht. Dabei hat es immer wieder nicht funktioniert: immer wieder haben viele ihr Geld verloren, und zehn Jahre später haben die nächsten viel Geld verloren …

Wenn es etwas gibt, was mich, bei aller Reserve gegenüber «Frühling der Barbaren», für dieses Gespräch interessierte, dann ist es die Vielheit von Jonas Lüschers Schreiben. Es changiert zwischen literarischem und wissenschaftlichem Schreiben – zwei Pole, von denen es landläufig heisst, sie gingen nicht unter einen Hut. Dass sich unter Lüschers bisherigen Publikationen auch ein Opernlibretto und eine Premiere in der Oper von Montpellier finden, steigert meine Neugier. In den konsultierten Medienberichten steht fast ausnahmslos Begeisterung für die Novelle im Vordergrund. Wurde «Frühling der Barbaren» einmal heftig kritisiert, dann interessanterweise im Zürcher Lokalteil der NZZ, unter Zuhilfenahme einer mikroskopischen Stilanalyse. Die scharfsichtige und zergliedernde Analyse führt dann aber auch wieder nur zu dem Vorwurf, Jonas Lüscher mache Martin Suter Konkurrenz. Was mir im Medienrummel rund um «Frühling der Barbaren» zu kurz kam, ist Jonas Lüscher als Schreiber: Wenn einer so bewusst auf so verschiedene Temperamente des Schreibens wie Literatur und Wissenschaft setzt, so meine Überlegung, dann dürfte dahinter ein Schreibbegriff stehen, der weit über den einzelnen Text hinausgeht.

Auf was kannst Du eher verzichten: Lesen, Schreiben oder Essen?

(lange Pause) Aufs Schreiben.

Du musstest lange überlegen.

Trotzdem.

Lesen käme nicht infrage?

Nein. Weil ich finde, dass es Leute gibt, die Bücher in einer Qualität schreiben, die ich nicht schaffe. Da lese ich lieber deren Bücher, statt mich mit meinem Schreiben zu beschäftigen.

Elke Heidenreich liest 400 Seiten pro Tag. Sie unterscheidet zwischen beruflichem und kulinarischem Lesen. Verstehst du das?

Nein. Im Grunde genommen sollte Lesen immer kulinarisch sein. Lesen als Leistungssport ist mir nicht sympathisch. Ich habe das in Amerika erlebt. An der Uni dort sind die Leselisten unglaublich lange. Mich hat das gestört, weil die Leute querlesen und nachher über Zeug reden, das sie nicht wirklich gelesen haben. Mir ist es lieber, weniger zu lesen, dafür gründlich. Ich bin jedoch kein besonders tiefgründiger Leser, ich lese schnell und intuitiv. Close-reading ist nicht so mein Ding.

Sollte man zwischen beruflichem und kulinarischem Schreiben unterscheiden?

Am liebsten wäre es mir, wenn zwischen wissenschaftlichem und literarischem Schreiben kein grosser Unterschied besteht.

Man sollte an beides mit derselben Leidenschaft herangehen?

Man merkt bei gewissen wissenschaftlichen Texten, dass Leidenschaft fehlt oder dass sie bewusst nebulös abgefasst sind. Das trifft man in der Philosophie öfter an, auch in der Literaturwissenschaft. Das ist für mich beim literarischen Schreiben keine Versuchung, sollte aber auch beim wissenschaftlichen Schreiben vermieden werden.

Max Frisch hat geschrieben, das Erfinden des Lesers sei der erste schöpferische Akt des Autors. Bist du einverstanden?

(denkt nach) Ich weiss nicht, ob man so viel an den Leser denken sollte beim Schreiben. Das mach ich nicht. Ich versuche so zu schreiben, dass ich es selber gerne lesen würde.

Hältst du es beim literarischen und wissenschaftlichen Schreiben so?

Beim wissenschaftlichen Schreiben weiss man mehr übers Zielpublikum: schreibe ich einen Aufsatz für ein philosophisches Fachpublikum, schreibe ich populärwissenschaftlich oder interdisziplinär, für Studenten oder Professoren. Das muss beim wissenschaftlichen Schreiben interessieren. Beim literarischen Schreiben interessiert es mich nicht. Dort ist es so: Was ich schreibe, schreibe ich. Dann gibt es Leute, denen es gefällt, und anderen gefällt es nicht. Das ist O.K.. Wenn jemand findet, das ist schwierig, was ich literarisch schreibe, dann, ja, gut, lies’ halt was anderes …

Stehen sich «Frühling der Barbaren» und deine wissenschaftliche Arbeit nahe?

Wenn ich in der Philosophie behaupte, dass wir uns als Gesellschaft bei der Beschreibung komplexer Probleme vermehrt auf Narrationen verlassen sollten, und nachher fange ich an, literarisch zu schreiben, dann werden die literarischen Texte automatisch darauf abgeklopft, ob das funktioniert.

Viele Leute sagen, dass man literarisches und wissenschaftliches Schreiben nicht unter einen Hut bringt.

Das finde ich nicht. Mich irritiert es, wie es zum Beispiel Peter Bieri alias Pascal Mercier macht. Ich habe gehört, er habe ein Pseudonym für seine literarischen Texte gewählt, weil er befürchtet hat, in seinen philosophischen Kreisen nicht mehr ernst genommen zu werden. Für eine solche Sicht auf die Philosophie habe ich wenig Verständnis. Ich würde das gerne zusammenbehalten. Der Prozess ist nicht so unterschiedlich. Schreiben bedeutet, man liest viel, erfährt viel, recherchiert viel, versucht die Welt aufzunehmen, denkt darüber nach und ab und zu kommt einem ein Satz in den Sinn, den man aufschreiben will. Ob der Philosophie oder Literatur ist, ist nicht so interessant.

Solche Sätze, die ebenso gut Literatur als auch Philosophie sein können: stimmen die vom Sound, vom Rhythmus her, oder denkst du, diesen Gedanken habe ich doch schon lange aufschreiben wollen?

Am besten ist es natürlich, wenn beides passt. Manchmal kann man das eine aber auch zu Gunsten des anderen vernachlässigen. Ab und zu bin ich bereit, für einen Klang und Rhythmus eine gewisse Strenge und grammatikalische Regeln über den Haufen zu werfen.

Du warst schon als Lehrer und im Filmbusiness tätig, schriebst ein Opernlibretto und jetzt doktorierst du in Philosophie. Weitere literarische Texte sind in Werkstatt. Wie viele Stunden braucht dein Tag?

(lacht, nachdenkend) Ich bin kein Workaholic. Ich finde Leute komisch, die sagen, sie arbeiten so wahnsinnig viel. Das finde ich irritierend. Man gibt dem eigenen Schaffen eine solche Bedeutung, dass man ihm alles unterordnet. Eine solche Unterordnung mag und brauche ich nicht. Ich habe aber gut vorbereitet. In meinem Leben fügen sich die Sachen zusammen. Mein Job an der ETH und das Schreiben, das gehört zusammen, meine Abendgestaltung meistens auch, ob ich ins Theater oder ins Kino gehe oder ein Buch lese oder mich mit Freunden treffe, die im Theater- oder im Filmgeschäft sind. Ich komme eigentlich aus diesem Zusammenhang gar nie richtig raus. Mein Leben steht in diesem literarisch-philosophisch-theatralen Zusammenhang. Dadurch kann ich produktiv sein.

Die Oper «Jetzt», deren Libretto Jonas Lüscher schrieb, wurde am 30. November 2012 in Montpellier uraufgeführt. Es ist eine philosophische Oper, die sich um das Zustandekommen und Zusammenbrechen von Sprache dreht. Es geht um die Reise des Individuums an sein Ende, an den äussersten Rand, wo individuelle Sprache nicht mehr trägt und der Übergang stattfindet ins Kollektiv, ins Gehirn des Schwarms. Ganz auf den Augenblick geworfen sehen sich die Gestalten dieser Oper, aller über die Vergänglichkeit hinwegtröstenden Metaphysik enthoben. Schritt für Schritt, Wort für Wort, Ton für Ton entschweben sie. Es ist nicht die Sprache, die das Individuum ans ‘Jetzt’ bindet. Die Sprache gibt bloss die Mittel zur Handlung. Die Sprache als auch die damit einhergehenden Automatismen und Trugschlüsse werden auf verschiedenen Ebenen thematisiert. Einmal gibt es einen Countdown. Sprache, Musik und Licht verstärken mit aller Kraft die Spannung, der zum Astronauten hergemachte Sänger steht bereit, mit dem umgekehrten Deus ex machina zu entschweben. Die Musik steigert und steigert sich. Für Sekunden überlegt man, was wohl für ein donnerndes, durch Mark und Geist gehendes Tutti am Ende stehen mag: «Vier, drei, zwei, eins …» – bamm, bada-bamm! so denkt man – doch weit gefehlt! Was geschieht? Weder haut der Paukist auf seine Felle, dass die Magengrube bebt, noch bricht ein Gewitter von Lichteffekten los. Stattdessen geht der Countdown wieder rauf: «Eins, zwei, drei, vier …» – Mit knappen Mitteln grosse Erwartungen wecken, um sie mit spärlichen Mitteln als willkürliche Setzungen zu widerlegen: Das beherrscht Jonas Lüscher. Mit jeder Stufe des aufwärts gezählt sich verdoppelnden «Countdowns» wächst ein Befremden. Es sind Sekunden, mit denen es unmöglich wird, die Welt im Banne früheren Zaubers zu sehen. Kurz vor Beginn des Countdowns trat der Chor auf und sang, dass die Anzahl der Dinge so gross sei wie die Anzahl der Worte. Schöne Worte sind das, aber ach! es fragt der Chor nach Ende des Countdowns den Astronauten: «Wie fühlen Sie sich, angesichts der Möglichkeit des denkbar einsamsten Todes?» – worauf der Astronaut antwortet: «Als reichten meine Worte nicht. / Als sei der Schrecken grösser als das Vermögen meines Geistes.» Weil es eben doch ein Ding gibt, zu gewaltig und präsent, um mit Worten gefasst zu sein, Ende aller Sprache, Sprachen, Sprachlichkeiten. Eine Beschreibung des Astronauten, wie er durch schwärzeste, von einer einzigen, leuchtenden Rauchwolke beseelte Bühnennacht entschwebt, dem Schnürboden entgegen, singend unter Helmvisier, eine ferne Stimme, elektrisch-nah: Sie kann nur scheitern angesichts der Diskrepanz zwischen dem Beschreibungsapparat der Worte und dem magisch-reduzierten Augenblick, indem Musik, Licht und Wort auf eins stehen.

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«In meinem Leben fügen sich die Sachen zusammen. Mein Job an der ETH und das Schreiben, das gehört zusammen, meine Abendgestaltung meistens auch, ob ich ins Theater oder ins Kino gehe oder ein Buch lese oder mich mit Freunden treffe, die im Theater- oder im Filmgeschäft sind. Ich komme eigentlich aus diesem Zusammenhang gar nie richtig raus. Mein Leben steht in diesem literarisch-philosophisch-theatralen Zusammenhang. Dadurch kann ich produktiv sein.» (© Opéra Orchestre national Montpellier)

[Jonas Lüscher hat mir nach dem Gespräch einen exklusiven Einblick in eine private Aufnahme der Oper ermöglicht und das Libretto zur Lektüre gegeben. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs kenne ich «Jetzt» noch nicht.]

Wie ist es zum Opernlibretto gekommen?

Ein Freund von mir, Urs Schönebaum, ist Opernlichtdesigner. Er arbeitet unter anderem mit Robert Wilson und Luc Bondy. Er wurde vom Intendanten in Montpellier gefragt, ob er eine erste Oper inszenieren wolle. Er bekam eine Carte blanche dazu. Er wollte keine klassische Oper machen. Er fragte einen befreundeten Komponisten an, Mathis Nitschke, und der dann mich. Wir haben eng zu dritt zusammengearbeitet. Es ist eine Kurzoper, sie dauert eine Stunde. Wir haben unsere Kurzoper mit einer Oper von Eliot Carter kombiniert. Carter war amerikanischer Komponist. Er starb an unserem ersten Probetag – kurz vor seinem 103. Geburtstag. Er hat eine 40-minütige Oper geschrieben, anfangs Jahrtausend. Seine erste und einzige Oper.

Klingt spannend! Ist aber hermeneutisches Neuland für mich! (beide lachen)

War es für mich auch. Als der Regisseur anrief, sagte ich: «Ich habe keine Ahnung von Oper.»

… dafür von klassischer Musik?

Auch nicht. Auch nicht. Dann hat der Regisseur gesagt, das sei genau der Grund, warum er anrufe. Im Grunde könne es dieses Projekt nicht geben. Für ihn war es die erste Opernregie, für den Komponisten die erste Oper. Er macht sonst Orchestwerwerke, klangmusikalische Werke oder Filmmusik, etwa für Houellebeq, «Die Möglichkeiten einer Insel». Da sind also drei Leute, die noch nie eine Oper gemacht haben. Normalerweise machen drei Leute, die noch nie eine Oper gemacht haben, ihre erste Oper in einem Kellertheater. Aber wir haben in Montpellier ein grosses Haus zur Verfügung gehabt. Wahnsinn – es ist aber gut aufgegangen.

An den Solothurner Literaturtagen gab es eine Debütantenrunde, zu der vier Literaturbetriebs-«Neulinge» geladen waren. Die Österreicherin Vea Kaiser studierte in Hildesheim ein Jahr lang «Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus». Der Hamburger Andreas Stichmann war am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Der Berner Spoken-word-Performer Michael Fehr besuchte das Schweizerische Literaturinstitut in Biel. Die Vierte in der Runde, Erika Dreier, absolvierte die Schule für Angewandte Linguistik Zürich. Dort kann man, scheint es, ein autobiografisches Buch schreiben und als Diplomarbeit abgeben, verlegt notabene in einem von einer Kommilitonin ebenfalls als Diplomprojekt betriebenen Verlag.

Dein erstes Buch ist dein zweites Buch. Wie fühlst du dich mit der Bezeichnung «Debütant»?

Ich sehe mich als Debütanten. Ein Buch ist ein Buch, wenn es veröffentlicht ist. Man ist erst Schriftsteller, wenn man ein Buch veröffentlicht hat. Das habe ich immer gedacht. Ich habe seit vielen Jahren geschrieben, aber nie gesagt, jetzt bin ich Schriftsteller. Selbst jetzt habe ich das Gefühl, man ist erst Schriftsteller, wenn man das zweite Buch herausgegeben hat.

Schreibausbildungen wie in Leipzig, Biel oder Hildesheim werden immer wichtiger. Kam ein solcher Weg für dich je infrage?

Nein.

Klingt kategorisch.

Ja. Weil ich nicht mit Leuten über mein Zeug reden will, bevor es fertig ist. Das würde mich hindern.

Spielen Schreibwettbewerbe eine Rolle für dich?

In Klagenfurt reichte ich schon ein. Bin aber nie herangekommen. Ja, gut, das würde man halt so machen. Nach Klagenfurt will ja niemand wirklich. (Lacht) Natürlich kann das hilfreich sein. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass die Leute da wirklich gern hingehen.

Wie siehts aus mit Förderungen?

Förderungen? Wunderbar. Wenn man drankommt und es braucht. Im Moment brauche ichs nicht, weil ich hier eine Dokotorandenstelle habe.

Du ziehst es auch künftig vor, dir deinen eigenen Rahmen zu setzen, innerhalb dessen du dich deinen Schreibprojekten widmen kannst?

Ja. Das wäre mir am liebsten. Im Grund habe ich ja im Moment eine Förderung von der ETH-Stiftung, für mein Forschungsprojekt. [Die Verleihung des Berner Literaturpreises an Jonas Lüscher war zum Zeitpunkt des Gesprächs noch nicht bekant.]

Gehts heute noch ohne Literatur-Agentur?

Ohne Agentur wär es unangenehm. Man hat ein anderes Standing, wenn man eine gute Agentur hat. Es gibt aber viele Scharlatane. Wahrscheinlich können auch gar nicht so viele Leute gute Literaturagenten sein.

Eine Agentur erspart einem als Autor ja auch nicht nur Portokosten, sondern auch Energie. Wenn man selber Manuskriptversand macht, bekommt man von rüden Absagen bis hin zu ungeöffnet retournierten Couverts eine reichhaltige Auswahl all dessen, was einen vom Weiterschreiben …

(unterbrechend) Ja also in der Regel wird das Zeug tatsächlich gelesen.

Den Eindruck habe ich jetzt nicht überall gewonnen.

Doch! Zumindest angelesen … wenn man sich an die Regeln hält. Alle Verlage haben ja auf ihren Websites genaue Anforderungen. Die meisten wollen Synopsis und die ersten zwanzig Seiten. Agenturen bringen viel. Auch, was Vertragsverhandlungen betrifft. Ich finde es keine schlechte Sache, dass es die Agenturen gibt. Es ist ein professioneller Zugang. Ich habe aber manchmal das Gefühl, dass Literaturagent ein Job ist, der manchmal ein bisschen komische Leute anzieht.

Soll ich das so schreiben?

Das ist so. Es gibt Agenturen, die verlangen Geld dafür, dein Buch zu lesen. Da zahlst du 200 Euro, damit sie dein Buch lesen. Dann nehmen sie dich in die Kartei auf und verlangen Jahresgebühr, machen aber nichts, weil sie keine Kontakte haben.

Da lohnt es sich, es mit dem Uschtrin-Handbuch zu halten.

Genau, oder mit www.literaturcafe.de. Die testen auch neue Literatur-Agenturen.

Bevor «Frühling der Barbaren» herauskam, hat Jonas Lüscher einen Roman geschrieben. Er fand keinen Verlag. Das Manuskript landete in der Schublade. Mich nimmt es Wunder, wie er zu diesem Romanprojekt steht. Ich stellte mir vor, dass es ihm schwerfallen dürfte, darüber zu sprechen. Doch weit gefehlt. Jonas Lüscher lädt mich unkompliziert und mit Nachdruck dazu ein, meine Fragen zu stellen.

War es schwierig, den Roman zur Seite zu legen?

Der Roman ist fertig. Ich habe nur keinen Verlag gefunden. Es ist ein umfangreiches Projekt. Es war eine Zeit, in der umfangreiche Romane nicht Mode waren. Jetzt sind sie es wieder, habe ich das Gefühl. Verlage drucken ungern ein Debut, das zu umfangreich ist.

Wie viel Seiten waren es denn?

Vier-, vierhundertfünfzig. Vielen Verlagen ist das zu riskant.

Warum wollen so viele Debütanten immer gleich einen dicken Roman schreiben?

(Pause) Weil es etwas Schönes ist, einen dicken Roman zu schreiben. Ich finde das nicht grundsätzlich falsch.

Ich ja auch nicht. Es ist etwas Schönes, ein langer Roman. Durch die lange Arbeit wird er zum Lebensbegleiter.

Ja, so ein kurzes Buch ist etwas anderes. Daran arbeitet man aber auch zwei, zweieinhalb Jahre.

Dieser schubladisierte Roman spukt jetzt nicht mehr durch deinen Kopf?

Beim Verlag ist diese Frage wieder aufgetaucht. Aber der Roman ist in der Schublade gut aufgehoben. Ich müsste wahnsinnig viel dran arbeiten, bis ich wieder Lust hätte, ihn herauszubringen. Da schreibe ich lieber etwas Neues.

Sind Roman und Novelle verwandt?

Das einzig Gemeinsame ist, dass beide zu einem grossen Teil in Afrika spielen. Der Roman spielt in Kenia: Es geht um die Entstehung des aufrechten Ganges, spielt also im Anthropologenmilieu. Ich habe eine Recherchereise unternommen in Kenia.

Systematisch, für die Recherche? Oder hat sich dein Schreibwunsch aus der Reise ergeben?

Ich hatte die Hälfte des Buches geschrieben und dann die Reise geplant. Um gewisse Sachen gesehen zu haben.

Was bist du für ein Schreibtyp: Kopf? Hand? Computer?

Ich schreibe mit dem Computer, muss aber «Selfcontrol» einschalten.

Was ist «Selfcontrol»?

Eine Software, die dich vom Netz kappt. Du kannst Ausnahmen angeben, den Duden zum Beispiel. Du kannst nicht mehr surfen und bekommst keine Mails. Das finde ich wichtig. Eine zeitlang habe ich mit einem alten Computer geschrieben, auf einer besseren Schreibmaschine, ohne Internet. Das Internet ist ein wunderbares Werkzeug – aber ich bin halt Newsjunkie. Meistens habe ich fünf Tageszeitungen offen …

Du bist viel unterwegs, zwischen München und Zürich, bist in den Staaten gewesen, um an deiner Dissertation zu arbeiten. Ist Schreiben für dich dennoch ortsgebunden?

Nein. Manchmal schreibe ich im Zug. Für die Novelle zum Beispiel. Für mich ist es eine Überwindung zu schreiben. Ich schreibe gar nicht gern. Es ist etwas Mühsames, Anstrengendes … Trotzdem sind die Tage, an denen ich geschrieben habe, die, an denen ich am Abend ins Bett gehe und zufrieden bin. Aber Leute, die gerne und viel schreiben, sind mir schleierhaft.

Es kommt halt drauf an: kulinarisches Schreiben dauert meist länger, berufliches Schreiben weniger lang, da muss geliefert sein, sonst bist Du geliefert …

(unterbrechend) Ich kann wirklich nicht sagen, dass ich gerne schreibe. Gleichwohl, es klingt komisch, aber manchmal schreibe ich gern … (Pause) Es klingt pathetisch … es ist etwas, was ich machen muss.

Eine Notwendigkeit.

Irgendwie.

Gibt es typische Schreibtage bei dir?

Dadurch, dass ich mal hier bin, dann dort, nicht … ich schaffe es nur schlecht, einen Rhythmus hinzubekommen. Ein Rhythmus wäre schön, aber ich schaffe es nicht. Irgendwann habe ich beschlossen, dass ich mich nicht damit quälen muss.

Hast du Schreibrituale?

Nein, es heisst einfach, den Sauhund zu überwinden.

Was bei dir beim Schreiben neben dem Pult steht, war meine nächste Frage. Aber das weiss ich ja jetzt schon: Kaffee.

Ja, Kaffee. Aber nicht in rauhen Mengen. Zum Schreiben brauche ich eigentlich nichts, ausser etwas zum Schreiben (Lacht) Ein Schreibwerkzeug.

Von Hand schreibst du auch.

Ja, mach ich auch. Aber ungern. Weil ich eine Saukralle habe …

… und du es nachher nicht mehr lesen kannst.

Lesen schon. Aber man schaut beim Schreiben ja auch auf das Layout. Ich habs gern, wenns von Anfang an Textform hat, das gehört dazu. Gliederungen, Absätze, Kapitel: Ich finde es schön, wenn das schon da ist. Man hat das Gefühl, dass ein gedruckter Text entsteht.

Draussen setzen Glocken ein; es geht gegen Mittag. Wir nähern uns dem Ende des Gesprächs. Ich habe zwei Zitate aus der Novelle vorbereitet, die ich Jonas Lüscher vorlese.

«Verblüffung bedeutet, die Welt als Widerstand zu erfahren, aber einer wie ich bietet zu wenig Angriffsfläche, und das galt in selbem Masse auch für Preising selbst.»

Siehst du das heutige Problem eher im Übermass des Verblüffens oder darin, dass man der Welt zu wenig Widerstand entgegensetzt, zu wenig aufmerkt und nach Antworten sucht?

Man ist zu stromlinienförmig. Dabei sollte man die Welt als Widerstand erfahren. Man sollte sagen: «Nein, das ist nicht richtig». Denken fängt dort an, wo man die Welt als Widerstand erfährt. Wir betrachten vieles als unabänderlich, wie Preising. Wir müssen die Welt als Widerstand erfahren, uns überraschen lassen, die Zeichen der Zeit lesen. Gewisse Dinge schleichen sich ein, man akzeptiert sie, ohne dass es einem bewusst wird, dass es etwas Gefährliches ist. In Frankreich wird zum Beispiel gegen die Schwulen-Ehe demonstriert. Jetzt hat sich sogar einer erschossen. Ich weiss nicht, ob du es schon gelesen hast …

Erschossen? Wegen der Homosexuellen-Ehe?

Ja. Unter anderem. Ein alter Neonazi-Publizist, Autor und Historiker. Der ist damals, im Algerienkrieg, bei einer Organisation gewesen, die Algerien mit Terrormitteln bei Frankreich halten wollte. Ein Altfaschist und revisionistischer Historiker. Der hat sich im Notre-Dame vor dem Altar erschossen …

… der hat sich im Notre-Dame vor dem Altar erschossen!?

… vor 1500 Touristen hat er sich in den Kopf geschossen. Der hat geschrieben, er wolle drauf hinweisen, dass die Schwulenehe der Anfang vom Ende sei, und die Ausländer natürlich auch. Dass in Frankreich Zehntausende …

… eher Hunderttausende …

… sich über die Schwulenehe aufregen, oder dass in Russland über das Schwulsein nicht mehr geredet werden kann: Das finde ich eine beängstigende Entwicklung, die weit über die Schwulenrechte hinausgeht. Man kann sagen, dass die Liberalisierung und Solidarisierung immer weitere Kreise gezogen hat. Als erstes hat man begriffen, dass Schwarze Menschen sind, dann hat man begriffen, dass Frauen das Wahlrecht haben sollten. Die Schwulenrechte sind wahrscheinlich die letzte grosse Entwicklung dieser Reihe. Das ist jetzt nur eine ad-hoc-Hypothese. Aber der historischen Abfolge muss man sich bewusst sein. Schwulenrechte sind nie selbstverständlich gewesen sind. Wenn man die Geschichte nicht kennt, sieht man das nicht. Man muss die history kennen, um die richtige story zu erzählen.

«Nur weil man etwas erlebt hatte, hiess das noch lange nicht, dass man wusste, was es bedeutete.»

Wir haben die Krise von 2007/2008 erlebt und erleben sie noch. Werden wir sie jemals verstehen?

Das ist eine intressante Frage. In diesem Zitat geht es aber um eine persönliche Krise. Preising hat ein Kind verloren. Es geht um persönliche Schicksalsschläge, um Ereignisse, die sich dadurch charakterisieren, dass sie keine Sinnhaftigkeit haben. Religion versucht dann Antworten zu geben: «Gott hat einen Plan. Er wird wissen, warum er mein Kind zu sich genommen hat» – solches archaisch-religiöses Denken ist mir zuwider. Es gibt nun einmal Ereignisse, die von grosser, entsetzlicher, leerer Sinnlosigkeit geprägt sind. Man kann versuchen, solche Ereignisse im Sinne von Lebensoptimierung umzuwerten. Das stinkt mir unglaublich. Weil ich das Gefühl habe, nein, es gibt Sachen, die sind so grauenhaft, da muss ich jetzt gar nicht erst versuchen, es positiv zu werten. Wenn mein Kind stirbt und einer sagt mir: «Das musst du positiv werten!» –, da würde ich sagen (heftig): «Nein! das schon gar nicht!» – Es geht also in dem Zitat um die persönliche Ebene. Auf gesellschaftlicher Ebene ist es eine Frage des Engagements, ob man etwas versteht. Man kann die Finanzkrise verstehen: Das ist ein Haufen Arbeit, man muss sich einlesen, lang und intensiv darüber nachdenken. Selbst dann noch zweifelt man, ob man es verstanden hat. Etwas zu verstehen ist viel Arbeit …

… ein Prozess, nichts jemals Fertiges, Abgeschlossenes …

Es wird auch nie so einfach erklärt werden können, dass man es sofort versteht.

Wie soll man beschreiben, was tief genug in einem steckt, um sowohl die eigene Sicht der Dinge als auch die zu ihrer Beschreibung verwendeten Begriffe zu bestimmen? Etwas, was selbst dann noch, wenn man es auskotzt, tief in einem steckenbleibt? Wie kann man der bis in die hintersten Ritzen schnell getakteten Jetzt-Zeit Herr werden, wenn man sich andauernd Dinge fragt wie: «Lohnt sich das?» – «Will ich die Zeit investieren?» – «Welcher Nutzen resultiert?» – Allein das Planspiel, all diesen verkörperten Metaphern zu entkommen: undenkbar, egal, wie viel Anstrengung und Hingabe man darauf auch ver(-sch-)wendet. Selbst gesetzt den Fall, wir entkämen tatsächlich, dann hätte uns die Bemühung garantiert so ausgelaugt, dass wir zur Abkühlung eine Cola brauchen oder uns unsern Durchbruch auf Facebook und Twitter mitteilen. Was im persönlichen Leben kaum oder nur auf das Risiko hin, eine denkbar pathetische Falle zu machen, umsetzbar ist, entzieht sich seiner Literarisierung noch viel hartnäckiger. Während man sich auf individueller Ebene eine solche allenfalls halbwegs geglückte Flucht aus dem Augenblick schönreden kann, braucht es ungeheuer viel Arbeit am lebendigen Organismus, um auch nur den Ansatz einer literarischen Umsetzung ins Werk zu setzen. Jonas Lüscher wagt den Versuch, und er wählt seine Mittel entsprechend: Distanz der Erzählung, Abkühlung der Begriffe sowie eine auch schon (und: zurecht) als Modellhaftigkeit angekreidete (und: nicht immer gleich konsequent durchgezogene) Temperierung des Stoffes. Es gehört Mut dazu, die Krise anzugehen, in einer Zeit, in der alle immer alles wissen: ohne verkaufsfördernden moralischen Zeigefinger zumal, ohne husch-husch in allen Lagen empöristischer Choräle vertonte, pauschalisierende Lösungsvorschläge, unter Inkaufnahme beträchtlicher erzählerischer Risiken.

Am Ende eines Gesprächs, welches Be- und Entgegnung war, trete ich hinaus in herbstlichen Mai-Regen. Abermals hänge ich meinem den «Frühling der Barbaren» betreffenden Befremden nach. Da ist eine Widerspenstigkeit, die sich nicht erschöpft in dem zuweilen seltsamen Wechsel zwischen Lakonie und Fülle. Die Herunterbrechung der Krise auf eine Hochzeit, eine verunglückte Beat-Poetry-Lesung, auf Rollkoffer-Irrfahrten durch die Wüste, die Opferung eines Kamels à la T. C. Boyle, stellt vor eine Aufgabe: Die Bestimmungsarbeit, ob es sich um eine Tragödie, Komödie oder Denksportaufgabe handelt, wird von der Novelle, mal so gesagt, outgesourced. Auf die Leserschaft übertragen. Der Text schweigt sich darüber aus. Er markiert auch kein Ende, allenfalls einen Anfang. Ebenso gedrängt wie ausfaltend, ebenso skizzenhaft wie vollendet, lädt er zum Nachdenken ein: Wie ist Preising in der Psychiatrie gelandet? Was bringt es, Finanzmärkte als Erzählungen zu durchschauen, wenn wir uns darüber dann doch wieder nur Erzählungen erzählen? So gesehen handelt es sich bei dieser Novelle um Literatur als Widerstand, als Denkwiderstand. Man kann nicht ohne Weiteres darüber hinweggehen. Es ist eine Einladung zum Selberdenken und Durchkonfigurieren des Inhalts. Es würde mich nicht wundern, wenn überhaupt meine ganze Reserve dem «Frühling der Barbaren» gegenüber sich hieraus speisen würde. Nach dem Motto: Was mich in Wirtschaftsteil und internationalem Bund vor Knacknüsse stellt, diese Gutenachtlieder auf die Vernunft mit ihrem basso continuo, der aus dem einzigen Wort «Alternativlosigkeit» besteht – ich habe mir gewünscht, es vor- und auserzählt zu bekommen. Hatte gehofft, diffuse Mechanismen vermenschlicht zu bekommen, ausgeschildert, ausbuchstabiert. Mit einer Einladung, die Literatur und mit ihr die in ihr enthaltene Welt so intensiv als Widerstand zu erfahren, habe ich nicht gerechnet. Denken beginnt, wo man die Literatur als Widerstand erfährt; das ist die Essenz des «Frühlings der Barbaren». Es ist der Kontrast zwischen der Menge aufgeworfener Fragen und der Kürze der Novelle, der mich stutzen liess und lässt. Während ich zum Bahnhof schlendere, frage ich mich, woran Jonas Lüscher wohl gerade schreibt. Ich hoffe, an einem ziegelsteindicken Roman. Aber das ist eine andere Geschichte.

Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren. 2. Auflage 2013. 125 S.: Gebunden. C.H.BECK ISBN 978-3-406-64694-2. Auch als E-Book.

Einige Gedanken zu “Den Widerstand der Welt erfahren – Interview mit Jonas Lüscher

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