»Und nun auf, zum Postauto !« – Rezension zu Arno Schmidts 100. Geburtstag

 Vor einhundert Jahren wurde Arno Schmidt geboren. Der Suhrkamp-Verlag widmet ihm einen wunderbaren Briefband.

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Schmidts Besessenheit für das noch zu schreibende als auch für das bereits geschriebene Wort verbindet die Briefe. Es entsteht das Bild eines Bibliomanen und Karteikasten-Aficionados, eines unermüdlich übersetzenden, recherchierenden, schreibenden, lesenden Autors, der sich den Dickens in 21 Bänden und seiner Frau «ein Paar Stretch=Strümpfe» kauft.

Von Gregor Szyndler

Der Suhrkamp-Verlag bringt mit »Und nun auf, zum Postauto !« mehr als 150 teils unpublizierte Briefe Schmidts heraus. Die Briefe sind an die Familie gerichtet, an Kollegen, Verleger, Kriegs- und Schulkameraden. Sie kreisen um Auswanderungswünsche, Bitten um Rückmeldungen zu Manuskripten, Verhandlungen mit Verlegern über neue Werke; ätzende Beobachtungen finden sich ebenso darunter wie poetische Traumskizzen. Die Briefe umfassen den Zeitraum zwischen 1935 und 1979. In den Kriegsjahren bestehen grosse Lücken.

Schon 1934 hatte Schmidt Kontakt aufgenommen zu Hermann Hesse. Sogar ein Gedicht hatte er ihm gewidmet. Nach dem Krieg sandte Schmidt Hesse sein noch unpubliziertes Manuskript «Leviathan». Hesse besprach es in einem Rundbrief kritisch-routiniert (Schmidt sei ein «wirklicher Dichter», wenn auch «jung und schnoddrig»). Diese Rezension mochte Arno Schmidt nicht unquittiert lassen. Er schrieb frank und frei zurück, Hesse sei ein

«begabter Dichter; reich und faltig. Zweierlei fehlt ihm : naturwissenschaftliche Kenntnisse (oder doch deren Einwirkung und Auswertung), und das Erlebnis folgender Urphänomene: Soldat sein müssen, Krieg, Kriegsgefangenschaft, Hunger. Also kennt er ausreichend nur die friedlichere Seite des Menschen. Ein Glücklicher. […] Ich verbleibe mit tiefer Ehrerbietung für HARRY HALLER (der mich wohl anders angesehen hätte)».

Alleine die Grussformel sagt alles aus über das Ausmass der Enttäuschung und Entrüstung über das ehemals grosse Schreibvorbild. Von Hesse weiss man ja, dass er, ein passionierter Gärtner, ihm unliebsame Rezensionsexemplare im Garten als Gehwegplatten verbuddelte und vermodern liess (in Gaienhofen am Bodensee hatte er es so gehalten). Ob auch der «Leviathan» einem solchen Schicksal zugeführt wurde? Man muss nicht ins Tessin fahren und den Garten umgraben, um herauszufinden, wie Hesse zu Schmidt stand. Nach Arno Schmidts Postkarte brach der Kontakt ab. Als Schmidt 1957 der Vorschlag gemacht wurde, anlässlich des 80. Geburtstag Hesses eine Rezension zu verfassen, schrieb er in einem Brief:

«Radio München bot mir an, ich solle zu Hermann Hesse’s 80. eine Grossrezension liefern! (Hat natürlich keinerlei Sinn, da die Herren ja zu solchem Anlass nur einen Lobgesang brauchen können!). –»

Nebst solchen belletristischen Sträussen werden in dem Briefband auch wesentlich existenziellere, juristische Scherereien greifbar.

Gerichtsverfahren mit Pocahontas

Da ist jene Anklage wegen Gotteslästerung und Verbreitung unzüchtiger Schriften, im Zusammenhang mit seinem Werk «Seelandschaft mit Pocahontas». Aus einem Brief (1956), gerichtet an Verleger Krawehl, wird deutlich, wie weit es mit der künstlerischen Freiheit in der Adenauer-Ära her war:

«heute, vor einer Stunde, hat meine polizeiliche Vernehmung stattgefunden […]; auf Grund einer Anfrage der Staatsanwaltschaft Trier (Bezug: Anzeige wegen Gotteslästerung, Verletzung der Sittlichkeit, Schmutz= und Schundschriftstellerei, usw.)»

Durch das Verfahren in der Ausübung seiner künstlerischen Freiheit ebenso eingeschränkt, wie in der Aufrechterhaltung seiner wirtschaftlichen Existenz bedroht, schreibt er am 5.7.1956:

«Wissen Sie nicht […] dass bei der jetzigen politischen und geistigen ‚Lage‘ mich schon seit Jahren kein Verleger mehr zu bringen wagt? […] Ich halte mich lediglich über Wasser, indem ich ums liebe Brot englische Romane übersetze (etwa für die Rororo’s); Nachtprogramme anfertige; und neckische Zeitungsgeschichtchen zusammenfingre: […] Also den Vorwurf dürfen sie nie einem Schriftsteller gegenüber erheben, dass er Ihnen nicht taktmässig genug einen ‚Faust‘ nach dem anderen vorlegt!»

Über den ganzen Band verteilt wird immer wieder Schmidts Ringen mit den Gerichten sichtbar. Mal erscheint er kampfbereit, dann resigniert er, etwa, als er seinem Verleger den Vorschlag macht, präventive Selbstzensur am «Steinernen Herzen» vorzunehmen, und die Auslassungen folgendermassen im Begleittext zu thematisieren:

«[…] ‚vielleicht kann in dreissig Jahren die ungekürzte Veröffentlichung des Textes erfolgen‘. Das ist meiner Ansicht nach, der für uns beste Weg; und zudem gleichzeitig der für die Bundesregierung blamabelste!»

Es geht ihm also nicht nur um die Überwindung juristischer Willkür, sondern auch darum, die Verantwortlichen blosszustellen. Er war nicht allein in diesem Konflikt. Zahlreiche Geistesgrössen setzten sich für ihn, für die Kunstfreiheit ein. So kann Schmidt am 10.6.1955 schreiben:

«Wir [=Alfred Andersch und er, Anm. d. Red.] haben uns als Feldzugsplan bisher lediglich entworfen, durch eingeholte Urteile von Fachleuten (z. B. die Professoren Adorno, Kogon, Bense, die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften in Mainz usw.) nachzuweisen, dass es sich bei ‚Pocahontas‘ eben doch um ein KUnstwerk handelt.»

Nach einer klugen Lebensmittelpunktverlegung nach Darmstadt wurde die Anklage fallengelassen. Arno Schmidts Losung, mit der er an den Konflikt heranging, bleibt zeitlos gültig:

«Solange ich wegen Gotteslästerung verklagt werden kann : so lange werde ich ‚lästern‘, und verlangen, dass die andere Seite wegen Lästerung des Atheismus vorgeladen wird.»

Aus solchen Zeilen wird die Radikalität seines Schaffens ersichtlich. Im Kontext des Verfahrens bieten die Briefe Ansichten aus dem Auge eines Sturms. Wo der vorsitzende Richter dem angeklagten Autor noch vor der Verhandlung mitteilt, einen solchen Schmutz und Schund habe er noch nie gelesen, dort ist die Vergangenheit noch nicht so vergangen, wie es die Erzählungen vom Wirtschaftswunderland suggerieren.

Kein grosser Freund kleiner Provinzen

Während man beim Lesen der die juristischen Auseinandersetzungen betreffenden Briefe dem streitbaren Autor gerne folgt, sich fragend, wie weit es heute wohl mit der Meinungsäusserungsfreiheit (jenseits von Shitstorm, Political Correctness und dem Verstoss gegen PR-Sprachregelungen) sein mag, zeigen andere Briefe einen so kauzigen Giftler, dass man es kaum glaubt. So schreibt er am 15.11.1957 an Alfred Andersch, dessen Buch «Sansibar oder der letzte Grund» soeben vom schweizerischen Literaturhistoriker Walter Muschg besprochen worden war:

«Es gibt nun einmal ganze Völker, die für gewisse Dinge unzuständig sind : die Schweizer wissen seit I00 Jahren nicht mehr was ‚Krieg‘ ist – das ist ihr Glück; aber dieses Glück ist menschlich und literarisch ihr ‚Pech‘! […] solche Menschen können nicht ‚mit reden‘! […] die Schweizer sollen doch nie verkennen, dass sie nur eine erbärmlich kleine Provinz im deutschen Sprachraum sind: sie können nicht I Namen nennen, dem wir nicht sogleich aus dem Stegreif 20 gleichwertige sowie I0 bessere gegenüberstellen könnten! In jeder Kunst.»

In dieser grossväterlichen Arroganz, die Kunst mit Milchbüchleinrechnungen gleichsetzt, schwingt mehr mit als die zu vielerlei Zeiten in vielerlei Ausprägung bei vielerlei Autoren zu findende Bewertung des Krieges als integraler Bestandteil künstlerischer Entwicklung: Man denke nur an Hemingway, zerschossen zurück von der italienischen Front, ein Kriegsheld, obschon ‚nur’ Rotkreuzfahrer und Verteiler von Schokolade in den Schützengräben. Dabei ist das Verschontwordensein vor Krieg, gerade im literarischen Feld, kein Pech. Im Gegenteil: nur so werden Blicke, gerade auch auf geistige Schlachtfelder, möglich, die es sonst kaum geben könnte. Ob Dürrenmatt und Frisch dieselben geworden wären, wenn Deutschlands Autoren nicht mit den Verheerungen des zwölfjährigen Reiches zu ringen gehabt hätten, gehört in die Domäne der Eventualliteraturgeschichte, ein Gedankenspiel, das es vielleicht verlohnte, für sich betrachtet zu werden. Ein Land als erbärmlich klein zu bezeichnen, ist das eine; eine Provokation, ein Reflextest. Es sagt mehr aus über den Verfasser, als über das Objekt der ‚Betrachtung‘, besonders, wenn man sich, wie Schmidt, im selben Brief nach Druckmöglichkeiten in schweizerischen Zeitschriften erkundigt.

Es finden sich aber auch Briefe, die Schmidt als Meister der Ironisierung zeigen. So schreibt er am 9.2.1963 an den von Verlagsabsagen geplagten Autor, Übersetzer, Historiker Hans Wollschläger:

«: wie mögen Sie sich nur so zu Herzen nehmen, was I LeckToren=Vieh, dass der HErr in seiner unerforschlichen Gnade bei Rowohlt’s an die Spritze gelangen liess, über Ihr Buch daherschwätzt! […] Selbstredend ist es Ihnen noch ungewohnt, dies kontinuierliche Erblicken des Fänomens, dass ‚Verleger‘ nichts als eine, leider einflussreiche, Unterabteilung der Klasse der ‚Schlechten Leser‘ sind: muss doch selbst=ich, noch heute, jeglichen Verleger und Redakteur, in jedem einzelnen Falle, ‚zu seinem Glück zwingen’»

Wollschläger hatte sich an Schmidt gewandt, nachdem ihm beschieden worden war, dass sein eigenes Werk demjenigen Schmidts zum Verwechseln ähnlich sei. Schmidt baut ihn erst einmal auf. Dann fährt er fort, die beiden Werke würden Ähnlichkeiten aufweisen,

«deren Geheimnis darin besteht, dass sich zwischen gleichzeitig lebenden (bzw. wirkenden) Schriftstellern unumgänglich ‚Gezeitenkräfte‘ herstellen & ‚Materialfäden‘ bilden.»

Hier lässt der Unnahbare für einmal Nahdistanz zu, und er verortet sich in grosser Selbstverständlichkeit in der Gesellschaft von Proust und Joyce. Ein grandioser Einzelgänger, ab und an Solipsist geschumpfen, sich seines Wertes selbstverständlich bewusst.

Faszinierendes Bild in Briefen

Schmidts Besessenheit für das noch zu schreibende als auch für das bereits geschriebene Wort verbindet die Briefe. Es entsteht das Bild eines Bibliomanen und Karteikasten-Aficionados, eines unermüdlich übersetzenden, recherchierenden, schreibenden, lesenden Autors, eines Geniessers auch, der sich den Dickens in 21 Bänden und seiner Frau «ein Paar Stretch=Strümpfe» kauft. Von wegen lebensvollzugsfeindliche Arbeit im Gehäuse! In einem Brief (8.3.1957, an den Maler Eberhard Schlotter) berichtet Arno Schmidt von einem, man kann nicht gerade sagen, feuchten Traum:

«Eingeschlafen : Angsttraum : nur im Pullover durch ein labyrinthisches Funkhaus irren. Am Ende, kabelgefesselt, von hitzigen jungen Technikerinnen auf einen Schalttisch gehoben (und dann beides : Experiment & Tradition!).»

Humorvoll, Fehdehandschuhe werfend, über den Prosabegriff sinnierend: So lernen wir Arno Schmidt in den Briefen kennen. Sie zeigen den Autor in verschiedenen Lebenslagen, und sie zeichnen ein faszinierendes Bild. Das Bild eines von der Arbeit Besessenen, der bis an die Grenzen seines Körpers Forderungen in Sachen Disziplin, Produktion, Kontinuität, an sich stellte. Als Mentor zeigen sie ihn, als Richter, Tagebuchschreiber, Beobachter nicht nur des Literaturbetriebs.

Viele Zugänge

»Und nun auf, zum Postauto !« ist ein wunderbares Buch, auch eine Zeitkapsel in vergangene Epochen des Geisteslebens. Dafür sorgen die Anmerkungen, die an die «Bargfelder Ausgabe» verweisen. Die Lektüre eines Briefes endet so nicht selten bei den Essays, Kurzgeschichten, Dialogen. Ein alphabetisches Verzeichnis gibt Überblick über die Briefpartner. Weitere Verzeichnisse schlüsseln den Inhalt nach Werken, Medien, erwähnten Personen auf. So entgeht einem kaum eine Anspielung. Das Buch bietet somit eine Vielzahl von Zugängen. Ebenso gut kann es in chronologischer Reihenfolge gelesen werden. Dem Suhrkamp-Verlag ist ein rundum wunderschönes Buch gelungen. Schade nur, dass der Band kein verortendes Vor- oder Nachwort hat: um mehr Leute von dieser Lektüre zu zu überzeugen, wäre ein solcher Text geeignet. So wendet sich der Band eher an bereits auf den Geschmack Gekommene. Novizen können bei der fabulösen «Tina» (soeben wunderbar aufgemacht im Insel-Verlag neu erschienen) den Lackmustest machen. Am besten lässt man sich aber auch gleich noch den neuen Briefband kommen. Und die «Erste Bargfelder Kassette» sowieso. So lässt sich die Wartezeit bis zu den nächsten Schmidt-Publikationen gediegen überbrücken.

Arno Schmidt
»Und nun auf, zum Postauto!!«
Briefe von Arno Schmidt
Halbleinen, 295 Seiten
ISBN: 978-3-518-80370-7

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