Ein Leben zwischen Anarchie, Show und Schabernack: Dominik Müllers «Jean Tinguely – Motor der Kunst»
Von Michel Schultheiss
Der Personalchef ist sichtlich verärgert über den Rotzlöffel: «Der junge Mann macht ständig Dummheiten, er beschädigt Dekorationsmaterial fahrlässig und sogar absichtlich. Wir zweifeln daran, dass es uns gelingen wird, aus Ihrem Sohn einen tüchtigen Berufsmann zu machen». Adressiert ist dieser Brief an die Eltern eines jungen Dekorateurlehrlings. Sein Name ist Jean Tinguely.

Tinguely als verhinderter Partisane, Turmbauer zu Babel oder Ikonenstürmer: Auch wenig bekannte Facetten des populären Künstlers kommen in der neuen Biographie zum Zug (Bild: Christoph Merian Verlag).
Wer den Namen nun hört, kann sich wohl vorstellen, welchen Schabernack das Enfant terrible damals im Kaufhaus Globus getrieben haben mag. Tinguely (1925-1991) muss daher einem manchen wohl nicht näher vorgestellt werden: Dass seine Popularität weiterhin ungebrochen ist, hat längst nicht nur das ihm gewidmete Cyclope-Spektakel vom letzten Jahr aufgezeigt: Sowohl bei der älteren wie auch jüngeren Generation ist etwa der Basler Fasnachts-Brunnen im Volksmund einfach als «Tinguely-Brunnen» bekannt. Trotz seiner Prominenz gibt es auch viele Facetten des Schweizer Künstlers, die weniger geläufig sind. Dies zeigt ein Buch auf, das in diesem – zum neunzigsten Geburtstag des Künstlers – erschienen ist: Der Kunsthistoriker Dominik Müller hatte im Archiv des Tinguely-Museum Zugang zu bisher wenig bearbeiteten Quellen. Ursprünglich als Dissertation geplant, nahm die Forschungsarbeit einen anderen Lauf und aus dem Fundus der Archivmaterialien ist eine Biographie geworden, die auch einem breiteren Publikum gut zugänglich ist.
Die Leidenschaft für Umwälzungen und Umdrehungen
Der eingangs genannte Beschwerdebrief des Chefs an Tinguelys Eltern, welcher gleich auf einer der ersten Seiten zu sehen ist, gibt die Richtung vor: Es geht um den Werdegang des Künstlers. Dabei bleibt das Buch aber werkzentriert. In 16 Stationen wird durch sein Schaffen geführt und die einzelnen Kunstprojekte dienen dem Buch als Wegmarken, anhand derer auch Tinguelys Lebensgeschichte festgemacht wird. Die künstlerischen Etappen bilden also den roten Faden, doch es werden auch immer wieder Querverweise gemacht.
Der schlichte Titel «Motor der Kunst» fasst schon vieles zusammen, was Tinguely als wichtigsten Vertreter der kinetischen Kunst buchstäblich bewegte. «Er interessierte sich – im wörtlichen wie übertragenen Sinn – für Revolutionen, Umdrehungen, Umwälzungen», schreibt Dominik Müller. Dabei kommen in dieser Biographie auch Aspekte zum Zug, die weniger bekannt sind. So zum Beispiel Tinguelys Idee, in Griechenland an der Seite der anti-faschistischen Partisanen zu kämpfen – ein Vorhaben, das an der Schweizer Grenze scheiterte. Sein Interesse am Anarchismus wird ebenso angesprochen, aber auch die Auswüchse der Megalomanie, so etwa ein nie realisiertes gigantisches Turmprojekt. Nicht von ungefähr bezeichnet Müller ihn als visionären, aber auch widersprüchlichen Künstler, in dessen Schaffen aber auch die kommerziellen Aspekte der Kunst sowie der Personenkult eine Rolle spielen.
Ein von Kennern oft unterschätzter Künstler
Dabei hat das Buch auch wenig bekanntes Bildmaterial zu bieten, so etwa die frühen Ölmalereien oder die ersten Installationen, die versuchten, Künstler wie Kandinsky und Malewitsch ins Dreidimensionale zu hieven. Auch witzig-polemische Flugblätter wie der «Appell» von 1959, als sich Tinguely als Bilderstürmer mit einem Rundumschlag gegen die Ikonen der Avantgarde Aufmerksamkeit verschaffte, sind in Müllers Publikation zu sehen. Zum Schluss ist auch Tinguelys Auseinandersetzung mit dem Tod ein Kapitel gewidmet: Sein düsteres Spätwerk mit dem «Mengele-Totentanz» darf trotz aller fröhlichen Skulpturen nicht fehlen.
Wie Heinz Stahlhut im Vorwort festhält, wird Tinguely selbst von zahlreichen Kunstkennern «noch heute unterschätzt». Dabei räumt er ein, dass der Künstler zu dieser Einschätzung selbst beigetragen hat, als er eine populäre Kunst schuf. Dominik Müller ist sich dieser Spannung in Tinguelys Schaffen durchaus bewusst und möchte daher ein möglichst breit gefächertes Bild vom Künstler vermitteln. Sowohl Leser , welche damals ihre Kinderaugen ellenlang auf den Fasnachtsbrunnen oder den Luminator richten konnten, wie auch diejenigen, welche Tinguelys Position innerhalb der jüngeren Kunstgeschichte kennenlernen wollen, kommen auf ihre Kosten. Dabei versteht es Dominik Müller, Tinguelys Schaffen in einer kompakten Form abzuhandeln, ohne dabei oberflächlich zu werden.
Dominik Müller:
«Jean Tinguely – Motor der Kunst»
Christoph Merian Verlag, 2015
208 Seiten, 130 Abbildungen, gebunden
29 CHF, 26 EUR
ISBN 978-3-85616-650-2
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