Leben zwischen Welten – Samirs «Baghdad in My Shadow»
Mit seinem neuen Film, der in Locarno als Weltpremiere zu sehen war, legt Samir seinen wohl besten Spielfilm vor, einen Film, der das Beste aus seinen dokumentarischen Werken verbindet mit Thriller-Elementen.
Tawfiq (Haytham Abdulrazaq) ist ein irakischer Dichter, der in London im Exil lebt. Er trifft sich gerne mit anderen alternativen Irakis im Café Abu Nawas, wo er seinem Neffen Nasir (Shervin Alenabi) den Koran näherbringt. Nasir interessiert sich nämlich neuerdings sehr für den sunnitischen Islam – so sehr, dass er nun die schiitische Konfession seiner Mutter ablehnt. Tawfiq macht aber gute Miene zum bösen Spiel und trifft sich sogar mit dem radikalislamistischen Scheich Yasin (Farid Elouardi)…
Mit «Baghdad in My Shadow» legt Samir einen Thriller vor, der zwar einerseits durchaus spannend ist, aber doch in erster Linie als präzise Milieustudie brilliert – eigentlich Pflichtstoff für alle, die meinen, alle Muslime würden DAESH unterstützen. Wie Samir und seine Ko-Autorin Furat Al Jamil die Gräben in der irakischen Gesellschaft im Exil aufzeigen, ist schlicht und ergreifend grossartig, wobei Samir auch mit genuin filmischen Griffen in die Trickkiste nicht geizt – der Film als Traummaschine kommt dabei allerdings vor allem am Schluss zum Zug. Mehr sei hier aber nicht verraten…
In «Baghdad in My Shadow» treten sehr viele Figuren auf, und es wird viel geredet. Trotzdem wirkt das nie verwirrend; Samir hat sich dabei wohl bewusst aufs Wesentliche reduziert, grad nach seinem sehr langen (allerdings auch sehr guten) Dokumentarfilm «Iraqi Odyssey». Er und Ko-Autorin Al Jamil sparen dabei auch nicht mit Verweisen auf die Unterschiede zwischen West und Ost, auch jenseits von politischen Unterschieden: die Linken im Westen – und auch viele Liberale – pflegen heute zumeist eben einen doch offeneren Umgang mit Themen wie Homosexualität.
Nicht zuletzt geht es in «Baghdad in My Shadow» um Loyalitäten, und wenn heute in vielen Ländern Homosexualität als Erfindung des Westens gebrandmarkt wird, dann geschieht dies oft gar nicht oder nicht unbedingt oder nicht nur Aufgrund der Sache selbst, sondern vielmehr in bewusster Abgrenzung gegen den Westen. Zudem ist es bekannt, dass vielen Menschen auf der Welt erst der Kolonialismus die Homophobie schmackhaft gemacht hat (wenn nötig auch mit Waffengewalt).
Besonders schwierig ist es natürlich für einen Secondo wie Nasir, eine Balance zwischen Loyalität zur neuen und zur alten Heimat zu finden. Dauernd wird von Secondos erwartet, sie sollen sich doch gefälligst von DAESH, von Gewalt gegen Frauen und Schwule distanzieren. Mit diesen als Forderungen getarnten Unterstellungen werden aber nur neue und vermeintliche Gräben kreiert.
Samirs Filme zeigen hingegen immer wieder, dass es eben falsch ist, von reinen Dichotomien, Ost gegen West, Jude gegen Araber, Schweizer gegen Ausländer usw. auszugehen. Dies zeigt sich besonders in seinen Dokumentarfilmen «Babylon 2», «Forget Baghdad» und «Iraqi Odyssey», aber nun auch in seinem sicherlich persönlichsten (und besten) Spielfilm «Baghdad in My Shadow». Samir zeigt immer wieder, dass es eben nicht nur Schwarz und Weiss gibt. Samir ist ein Filmemacher, der Brücken baut. Dies kann er, da er selber weiss, von was er redet. Auch seine Ko-Autorin Al Jamil ist mit zwei Kulturen aufgewachsen.
«Baghdad in My Shadow». CH/D/UK 2019. Regie: Samir. Mit Haytham Abdulrazaq, Shervin Alenabi, Zahraa Ghandour, Taro Bahar, Kerry Fox, Farid Elouardi, Waseem Abbas, Ali Daim Mailiki u.a. Deutschschweizer Kinostart am 28. November 2019.
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